(Auf dieses Thema beziehen sich meine Bücher “Aschenlauge – Bergbauernleben im Wandel“ , 1. Aufl. 1987 im Linzer Landesverlag, 2. Aufl. im Böhlau-Verlag. und „Sommergetreide – Vom Ende der Bauernkultur“)
Meine Eltern waren also als Landärzte sehr eng mit den Bergbauern von Spital am Pyhrn durch ihre vielen Krankenbesuche verbunden. Als Kind erlebte ich diese Kultur sehr hautnah. Wie schon erzählt, wuchs ich neben einer Schmiede auf, zu der ein Bauernhof gehörte. Ich behaupte, dass sich in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein kolossaler Wandel hinsichtlich der Bauern bei uns in Österreich und im anderen Europa vollzogen hat, der seit der Jungsteinzeit einmalig ist. Als der Mensch bei uns um 5000 v. Chr. begann sesshaft zu werden und Vieh zu züchten, entwickelte er Techniken des Ackerbaus, des Erntens und des Umgangs mit dem Vieh, die sich bis vor ein paar Jahrzehnten kaum geändert haben.
Auf den Bildern des niederländischen Malers Pieter Breughel z. B. sieht man, wie damals im 16. Jahrhundert Heu auf die Leiterwägen, wie wir sie nannten, geladen wurde. Dabei sieht man Mägde und Knechte, wie sie am Heuwagen stehen, das Heu aufnehmen und es kunstgerecht verteile. Damit das Heu am Pferdewagen auch hielt, kam über dieses der sogenannte Wiesenbaum, der mit einem Seil vorne und hinten am Wagen niedergebunden wurde. Auf diese Weise konnte der Pferdewagen mit seiner hoch aufgebauten Heufuhre problemlos zum Bauernhof kutschiert werden. Die diese Heuwägen kutschierenden Knechte waren echte Künstler bei ihrer Arbeit.
Diese alte Bauernkultur habe ich vor allem in meinem Buch „Aschenlauge“ aufzuzeichnen versucht. In Spital am Pyhrn gab es im Orte eine Reihe von Bauern, die ihre Kühe auf die Weide trieben, die Menschen mit Milch und Butter versorgten und mit ihren Ackerpferden zum Hufschmied, der in der Nähe des Doktorhauses seine Werkstätte hatte, wanderten.
Das alte Spital am Pyhrn ist ohne Bauern nicht vorstellbar. Für diese alte Bauernkultur, wie ich sie später noch in Siebenbürgen um 1995 aufgefunden habe, war typisch, dass sie im Wesentlichen autark war. Die Bauern haben so ziemlich alles, was sie zum Leben benötigten, selbst hergestellt. Dazu gehörten nicht nur Milch, Brot und Fleisch, sondern auch die Kleidung und das Bettzeug. Man baute z. B. Flachs an, um Leinen zu erzeugen. Die Bauern hatten ein weites Wissen, das auf einer alten Geschichte aufruht und das in den letzten Jahrzehnten verloren ging. Ich habe versucht, dieses alte Wissen, soweit es ging, durch Gespräche mit früheren Bauersleuten aufzuzeichnen. Methodisch bediente ich mich des freien Gesprächs und der Beobachtung (zu meiner Art des Forschens siehe eines der folgenden Kapiteln, die sich auf die Feldforschung beziehen). Ich war vor allem zu Fuß zu den Bäuerinnen und Bauern unterwegs, von denen ich etwas erfahren wollte. Durch den Fußmarsch bekam ich eine weitere Beziehung zur bäuerlichen Welt. Als ich einen alten Holzknecht bat, mir etwas aus seinem Leben zu erzählen, meinte er bloß: „Die jungen Leute heute halten ohnehin alles für einen Unsinn, was die Alten erlebt haben“. Bei einem Glas Most konnte ich ihn schließlich überzeugen, dass es wert sei, seine Erzählungen, die bis in die Gegenwart reichen, festzuhalten.
Durch die Jahrhunderte hatten die Bauern um ihre Rechte zu kämpfen. Sie mussten Grundherrn den Zehent abgeben und Robot leisten. Sie wurden regelrecht ausgebeutet. Schlösser und Burgen konnten nur gebaut werden, weil es Bauern und ihr Gesinde gab, die für den Adel Dienste zu verrichten hatten. Aber immer wieder geriet der Bauer durch wirtschaftliche Zustände in Bedrängnis und Not. Besonders arm dran waren die Dienstboten, die auf manchen Bauernhöfen oft gewaltig ausgenützt wurden, wie ich in meine Büchern zu zeigen versucht habe.
Not und Ausbeutung führten in der frühen Neuzeit zu wilden Bauernaufständen, die brutal niedergeschlagen wurden. Auch in der letzten Zwischenkriegszeit, also vor dem letzten Weltkrieg, ging es den Bauern schlecht – als Folge des verheerenden 1. Weltkrieges. Die Bauern hatten Not zu leiden und waren daher auch offen für gewisse Ideen des Nationalsozialismus. Auch darüber sprach ich mit Bauern, Dirnen und Knechten, die diese Zeit miterlebt haben.
Ein mir bekannter Professor der Soziologie, Walter Simon ist sein Name, las mein Buch. Er war Jude und musste 1938 vor den Nazis in die USA fliehen. 1945 kam er als amerikanischer Soldat zurück nach Österreich. Als er mein Buch und die Kapitel zum Thema Nationalsozialismus gelesen hatte, meinte er, jetzt könne er verstehen, warum so viele Leute Nationalsozialisten geworden sind. Erst als es zu spät war, sahen sie die Verbrechen dieses Regimes. In meinem "Aschenlauge" bringe ich dazu ein Gespräch mit einer Bäuerin, die damals 1938 eine junge Frau war. Die Frau erzählte:
"Ich war wirklich eine Nationalsozialistin, doch wie ich gesehen habe, wie SSler gegen Ende des Krieges Menschen durch Spital am Pyhrn getrieben haben, war ich entsetzt. Es waren bei 30 Juden im Pyjama, die schon recht müde waren, die man wie Tiere vor sich her trieb. Das habe ich sehr verurteilt. Meine Überzeugung hat sich da sehr gewandelt. Wenn Spitaler diese müden Juden etwas zu trinken geben wollten, haben die Bewacher das verboten. So grausam waren sie. Das kann man nicht gutheißen und auch nicht die Konzentrationslager" (Aschenlauge, S 67).
Die aus der Not heraus zu Nationalsozialisten gewordenen Landarbeiter standen also nach dem Kriegt mit Entsetzen vor den Trümmern einer Ideologie, die Menschen auf grausame Weise erniedrigte.
Bittere Armut herrschte noch nach dem 2. Weltkrieg am Land. Unsere Nachbarin in Spital am Pyhrn war Frau Rosa Kaltenbrunner, ihr Mann war in diesem mörderischen 2. Weltkrieg gefallen. Sie bewohnte mit ihren drei Kindern: Gerti, Helga und Manfred eine kleine, frühere Dienstbotenwohnung über dem Stall gegenüber der Schmiede. Frau Kaltenbrunner war also Kriegerwitwe. Ihr Mann war Bauernsohn und auch sie kam aus der bäuerlichen Welt, für die die drei Prinzipien wichtig waren: Arbeit, Disziplin und Bescheidenheit. Nach diesen Prinzipien erzog sie ihre Kinder. Sie waren so arm, dass sie mit ihrer ältesten Tochter ein Paar schöne Schuhe gemeinsam hatte. Diese Schuhe zog Frau Kaltenbrunner z.B. an, wenn sie in die Stadt fahren musste, und ihre Tochter Gerti schlüpfte in die Schuhe, wenn sie z.B. am Sonntag in die Kirche ging. Ihr Sohn Manfred war einer meiner ersten Freunde, mit denen ich in den Wäldern spielte und auf den Wiesen den Schmetterlingen zuschaute. Manfred hat übrigens eine Tochter, die die Zähigkeit ihrer Großmutter geerbt haben dürfte. Sie heißt Gerlinde Kaltenbrunner und gehört zu den ersten Frauen, die alle Achttausender bestiegen haben.
Ich habe also eine intensive Beziehung zu der alten Bauernwelt. Zu dieser gehörte auch, dass ich mich regelmäßig beim Bauern Schmeissl am Haberskogel aufhielt. Dort betätigte ich mich u.a. als Kuhhirte. Ich spielte mit den Schmeisslkindern im Heu und auch im Stall und half, wenn im Herbst, das Mostobst gepresst wurde.
Zur Nachkriegszeit im Bauerndorf Spital am Pyhrn gehörten für mich auch Ungarn und Amerikaner. In den letzten Kriegstagen kam ein Treck der Ungarn mit ihren Pferdewägen aber auch mit der Eisenbahn in das Gebirgsnest Spital am Pyhrn.
Bei diesen Ungarn handelte es sich um Soldaten, Offiziere, noble ungarische Beamte und deutschstämmige Flüchtlinge. Diese Ungarn waren vor den Russen nach Österreich in das Gebirge geflohen. Sie führten mit sich einige sonderbare Kisten, die die Bauernburschen mit ihren Pferdekarren vom Bahnhof abholten und in das Stift brachten, wo man sie in der dortigen Gruft lagerte. Diese Kisten, wie man bald erfuhr, enthielten den Goldschatz der ungarischen Nationalbank. Die Kinder der Wächter dieses Schatzes zählten auch zu meinen ersten Freunden.
Neben den Ungarn waren es amerikanische Soldaten, die Leben in das Dorf brachten. Zu uns Kindern waren sie freundlich, sie gaben uns Schokolade und ließen uns in einem Boxring, den sie unweit der Kirche für ein paar Wochen aufstellten, mit echten Boxhandschuhen boxen. Für uns Buben bedeuteten solche Aktivitäten echte Abenteuer.
Abwechslung in das Dorf brachten auch die Zirkusse und Schausteller, die regelmäßig auf einer Wiese unweit des Stiftes, heute ist sie ein Parkplatz, gastierten.
Es ehrt mich sehr, dass der bekannte ORF-Journalist Christian Wehrschütz - seine ausgezeichneten Berichte über die Kriegs- und Krisengebiete im Südosten Europas u. ä. machten ihn populär - vor Jahren mein Buch "Aschenlauge" für die Neue Zürcher Zeitung in sehr fairer Weise und lobenswert besprach.