13. Hirtenbrief: Stigma und Stigmatisierung, Christine Kaufmann und die Geschorene von Chartres

Die Stigmatisierung von Frauen mit ihren “Kindern der Schande“ in Frankreich 1944 und 1945

Im vorigen Kapitel bin ich auf das Thema der Stigmatisierung eingegangen. Dabei  habe ich auch darauf verwiesen, dass das Scheren des Haupthaares zur  Stigmatisierung einer Person eingesetzt wurde bzw. werden kann, um eine Person  zu erniedrigen bzw. als „böse“ oder „gefährlich“ zu diskreditieren. Zu diesen  Personen gehörten oder gehören Strafgefangene und auch Frauen, die man dem  Spott der Öffentlichkeit ausliefern wollte, weil sie mit Soldaten der Feindmacht eine  Beziehung eingegangen sind und Kinder von diesen geboren hatten. In Frankreich  wurden am Ende des letzten Weltkrieges solchen Frauen die Haare geschoren und  auf die Kopfhaut ein Hakenkreuz gemalt, wie das unten wiedergegebene Bild der  „Geschorenen von Chartres“ zeigt.  

 

 

Christine Kaufmann und die Geschorene von Chartres

 

Ich lernte vor Jahren die damals berühmte Filmschauspielerin Christine Kaufmann in Wien kennen, sie war die Frau des amerikanischen Schauspielers Tony Curtis. Kennen gelernt habe ich sie durch die liebenswürdige  Frau Dr. Ursula Richter, eine bekannte Buchautorin, deren Dissertation an der Universität Wien ich betreuen durfte Ich war also ihr Doktorvater. Bei einem gemeinsamen Abendessen, an dem auch meine gütige Frau Gemahlin teilnahm, erfuhr ich einiges aus ihrem Leben. Sie erzählte mir, dass ihr Vater während des letzten  Krieges ein deutscher Luftwaffenoffizier gewesen ist, der in Frankreich stationiert  war, wo er ihre Mutter, eine hübsche Französin, kennen lernte. Aus der Verbindung  dieser beiden entstand sie, die Christine Kaufmann. Doch bevor sie zur Welt kam  im Sommer 1945, flüchtete ihre schwangere Mutter, weil sie zu recht fürchtete, von  französischen Landsleuten geächtet und beschimpft zu werden, in die  österreichischen Berge in die Obersteiermark. In St. Martin bei Gröbming erblickte  Christine Kaufmann 1945 das Licht der Welt. Durch diese Flucht war die Mutter einer Stigmatisierung in Frankreich entgangen. 

 

Als mein Buch „Die feinen Leute“ um  1984 veröffentlicht wurde, wurde es im Wiener 1. Bezirk in einem schönen Lokal, das  der bekannten Trachten’königin’ Dr. Gexi Tostmann gehört, präsentiert. Dafür bin ich  Frau Dr. Tostmann heute noch dankbar. Zu meiner Freude und zum Erstaunen der  Anwesenden erschien bei meiner Buchpräsentation unerwartet Christine Kaufmann.  Sie war,  leider ist sie schon verstorben, eine hübsche und freundliche  Dame, mit der ich  sogar einmal mit dem Fahrrad eine Runde am Wiener Ring gedreht habe – sie war  eine begeisterte Radfahrerin. Wäre die Mutter 1945 nicht aus Frankreich  geflohen, hätte sie wohl ein ähnliches Schicksal wie die „Geschorene von Chartres“  erfahren. Über diese soll nun berichtet werden. Die Geschichte dieser Frau passt  zum Thema der Stigmatisierung, wie ich es besprochen habe. 

 

 

La tondue de Chartres (Die Geschorene von Chartres) (1944)

von Dr. Ingeborg Christ 

 

Deutsch-Französische Kinder des 2. Weltkriegs  Kinder der Schande oder der Versöhnung? (Auszug) (Das Thema war Gegenstand von zwei Vorträgen der Autorin bei den Deutsch Französischen Gesellschaften in Duisburg und in im Paderborn Jahr 2010).  http://voila-duisburg.de/vortraege/kinder-der-schande.php

 

 

60 Jahre waren die Schicksale der Kriegskinder in der kollektiven Erinnerung  ausgeblendet. Heute, über 60 Jahre nach den Ereignissen und ausgehend von  Entwicklungen in Frankreich melden sich die damaligen Kinder zu Wort, und  sie erfahren Aufmerksamkeit. 

 

Bei dieser Neubewertung spielen … eine wichtige Rolle: Daniel Rouxel, ein  solches „Wehrmachtskind“, das als heute 67-Jähriger in Le Mans lebt. In dieser Zeit lebten ca. eine Million deutsche Soldaten als Besatzer in Frankreich ...  

 

Vor diesem Hintergrund ist das Foto der „Geschorenen von Chartres“ zu sehen. Sie ist nur eine von vielen Frauen, die diese öffentliche  Demütigung erfuhren, man schätzt mehr als 20.000, nicht nur allerdings wegen des sexuellen Kontakts mit Deutschen, sondern auch wegen  anderer Delikte der Kollaboration. ……  

 

Der Historiker Virgili (2000) sieht darin allerdings eine tiefere Bedeutung: Die  Nation reinigte sich generell von dem Makel der Kollaboration, indem sie  die Frauen zu Sündenböcken machte, die stellvertretend bestraft  wurden. Auf dem Foto war aber auch das Baby zu sehen. Es interessierte allerdings niemanden, was es bedeutete, in einer Gesellschaft heranzuwachsen, die die Mutter gedemütigt hatte, was es  bedeutete, seine Identität als Kind des Feindes zu finden. „Naître ennemi“  lautet der Titel der sozialgeschichtlichen Studie von Fabrice Virgili (2009). Es  brauchte sechzig Jahre, bis die Frage nach den Kindern in der  Öffentlichkeit gestellt wurde. Dabei spielte das Foto der „Geschorenen  von Chartres“ erneut eine Rolle. 2003 erscheint es in einem  Fernsehmagazin als Titelfoto für den Dokumentarfilm „Enfants de  Boches“, der am 13. März 2003 in France3 gesendet wurde. (Boches ist  ein Schimpfwort für Deutsche – also etwa: Kinder von  Drecksdeutschen). ……… Der Film wirkte wie  ein Dammbruch, Hunderte von Stellungnahmen gingen bei dem Sender  ein. Eine Frau schreibt: Das Foto hat mir einen Schock versetzt. „Diese Frau hätte unsere Mutter sein können, dieses Kind hätten wir selbst sein  können.“ (« Cette femme aurait pu être notre mère, cet enfant aurait pu  être nous !!! »). Der Tenor anderer Zuschriften war: „Wir haben erkannt,  wir sind nicht allein; es gibt  andere, die die gleichen Leiden erfahren haben, und es gibt  jemanden, der das Schweigen  gebrochen hat.“  

Am 6. August 2009 tritt ein älterer Herr von  Mitte 60 Jahren aus der Tür der Deutschen  Botschaft in Paris. Er schwenkt eine Urkunde, und mit Tränen in den Augen ruft  er aus: „Je ne suis plus un bâtard, j’ai une maman et un papa comme tout le monde“. (Ich bin kein Bastard mehr, ich habe einen Papa und eine Mama wie  jeder). Das französische Fernsehen strahlte diese Szene aus, die wenig später  auch im deutschen Fernsehen zu sehen war.  

 

 Daniel Rouxel (2009), Enfant de Boche 

 

Der Protagonist ist Daniel Rouxel, geboren am 2. April 1943. Seine Geburtsurkunde  trägt den Vermerk: Mutter - Lea Rouxel, Vater - unbekannt. Auf der Urkunde, die er  2009 in der Hand hält, ist vermerkt: Vater - Otto Ammon, Deutscher, und dem  Besitzer wird bestätigt, dass er an diesem Tag zusätzlich zu seiner französischen  auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat. Für Daniel rundet sich seine  Biographie ab. „J’ai enfin cette deuxième moitié qui m’a tellement manqué (Ich  habe endlich diese zweite Hälfte, die mir so sehr gefehlt hat), je suis heureux“  (Ich bin glücklich), ruft er dem Reporter zu. Der Weg dahin war weit. Daniel  Rouxel ist der erste unter den deutsch-französischen Kriegskindern, der die  doppelte Staatsbürgerschaft erhält. 

 

Daniel Rouxels Kindheit ist in vielem typisch für die Biographien der  Wehrmachtskinder in Frankreich, in manchem aber auch individuell. Seine Eltern  lernten sich 1942 in der kleinen Stadt Pleurtuit-Dinard in der Normandie kennen, wo  Otto Ammon als Unteroffizier stationiert war. Beide waren 24 Jahre alt. Am Anfang  solcher Beziehungen steht oft ein romantisches Element: Lea Rouxel hat eine  Fahrradpanne, Otto Ammon kann helfen. Es begann eine Liebesbeziehung. Lea  brachte Daniel in Paris zur Welt, da die Geburt verheimlicht werden musste. In der Provinz war der Status der ledigen Mutter (fille-mère) und noch dazu eines  Besatzerkindes, ehrenrührig. Den deutschen Soldaten waren Beziehungen zu  Französinnen verboten. Wenn sie bekannt wurden, drohte Versetzung an die  gefürchtete Ostfront. Die Hauptstadt bot den Schutz der Anonymität. Im  Sommer 1944 musste Otto Ammon im Rahmen des deutschen Rückzugs  Frankreich verlassen, er wurde dabei verwundet und starb 1945 in einem  Lazarett in der Pfalz. Vorher teilte er seiner Mutter seine Vaterschaft mit. 

 

Daniel hatte eine schwere Kindheit. Seine Mutter musste ihn, um ihren  Lebensunterhalt zu verdienen, zunächst in einem Säuglingsheim, dann in einer Pflegefamilie unterbringen, sodann bei der bretonischen Großmutter in einem kleinen  Dorf mit 600 Einwohnern. Dort erlebt er die Hölle der Vorurteile gegenüber dem Kind  eines Boche. Die Großmutter, eine ungebildete Frau, vermochte nicht, mit dem  ungeliebten Enkel über seine Herkunft zu reden. Sie lebt in ärmlichen Verhältnissen  und sehnt sich nach Anerkennung im Dorf. Nun macht ihr ihre Tochter diese  Schande. Sie wünscht sich, der Junge wäre nicht da, wäre nicht am Leben. Der  ungeliebte Junge wird aggressiv, sie straft ihn mit Schlägen und sperrt ihn in  den Hühnerstall, wo die Nachbarskinder das „Monster“ im „Zoo Rouxel“  hänseln.  

 

Daniel kann sich lange Zeit nicht erklären, warum er abgelehnt wird. Die Mutter  ist zumeist abwesend. Die Großmutter antwortet auf seine Fragen stereotyp:  „Tu demanderas ça à ta mère“ (Das kannst Du Deine Mutter fragen). Als er acht  Jahre alt ist, klärt ihn seine Mutter über seine Herkunft auf. Daniels erster  Besuch bei seiner deutschen Familie fand 1955 statt, als er zwölf Jahre alt war. Er  wurde liebevoll aufgenommen und es wurde ihm angeboten, in der deutschen  Familie zu leben und dort seine Schulbildung fortzusetzen, aber seine Mutter  lehnte dies ab. Daniel bleibt weiterhin als „enfant de boche“ bei der  Großmutter. Aber er hat begriffen, dass seine Eltern sich geliebt haben, der  Vater ihn als Säugling gekannt und anerkannt hat. Diese Gewissheit gibt ihm  Kraft, so dass er später derjenige sein wird, der das Tabu des Schweigens  bricht und sich öffentlich und politisch für die vergessene Generation einsetzt.  In dieser Hinsicht ist er ein Sonderfall. 

 

 

Die allmähliche Veränderung der kollektiven Erinnerung 

 

In der Erinnerungskultur beider Länder bleiben die Kriegskinder lange Zeit  ausgeblendet. In Frankreich passten sie nicht zum Mythos des im Widerstand, in der  Résistance heroisch zusammen stehenden Frankreich. Erst seit den 1970er Jahren entwickelte sich allmählich ein realistischeres Bild von Widerstand, Vichy-Regierung  und Kollaboration. In Deutschland konzentrierte sich die Aufarbeitung der Geschichte auf die großen Fragen wie Verantwortung für das Dritte Reich, für den  Krieg, für den Holocaust.  

 

 

Die Gewährung der doppelten Staatsbürgerschaft als Geste politisch gesellschaftlicher Wiedergutmachung  

 

Die Aufarbeitung des Themas deutsch-französischer Kinder des 2. Weltkrieges findet  einen politischen Abschluss mit der Gewährung einer doppelten Staatsbürgerschaft  für diese Personen, ohne die sonst üblichen bürokratischen Hürden. Auf Initiative des  französischen Außenministers Bernard Kouchner sollen mit dieser Geste der  politischen und moralischen Wiedergutmachung diese „letzten Opfer des 2. Weltkriegs“ von der anderen Nation als die ihren anerkannt werden und teilhaben  an der deutsch-französischen Versöhnung. Damit sollen sie endlich das „Ziel einer  langen Reise zum eigenen Ich“ erreichen. Daniel Rouxel war der erste dieser  Gruppe von Personen, der am 6. August 2009 die doppelte Staatsbürgerschaft  erhalten hat.

 

Die Bilder der „Geschorenen von Chartres“ und des triumphierenden Daniel  Rouxel im Abstand von 65 Jahren sind hierfür Merkmale. Für diese Menschen  mit doppelten Wurzeln, die bisher in Schande und im Schatten lebten, bedeutet  die gesellschaftliche Beachtung ihres Schicksals.

 

Roland Girtler: Stigma, Scham und Selbststigmatisierung