Nach dem Erscheinen der ersten Auflage meines Methodenbuches im Jahre 1985 erhielt ich von Prof. Christian von Wollfersdorff – damals tätig am Deutschen Jugendinstitut in München - einen sehr freundlichen und mir in meiner Art der Feldforschung zustimmenden Brief. Der Mann war offensichtlich überrascht, dass jemand den Mut hatte, so ein Buch zu verfassen.
Ich habe den Brief (s.u.) abgeschrieben und gebe ihn auszugsweise hier wieder:
Prof. Dr. Christian von Wolffersdorf, Deutsches Jugendinstitut München, 8.3.1985
Lieber Herr Girtler,
bei der Lektüre ihres neuen Methodenbuches sind wir (d.h. mein Kollege und Freund Jochen Kersten und ich) auf die Idee gekommen, Ihnen eine kurze Rückmeldung zu geben und dabei einige Gedanken aufzuschreiben, die uns als langjährige „Anhänger“ qualitativer Forschungsmethoden gerade in letzter Zeit oft bewegen.
Zunächst zu Ihrem Buch:
Wir freuen uns darüber, dass Ihnen eine so unprätentiöse und gut verständliche Darstellung gelungen ist, die sich nicht scheut, für schlichte Sachverhalte auch eine schlichte Sprache zu wählen Vom sozialwissenschaftlichen Mainstream her betrachtet liegt ja schon allein darin eine Art Devianz. Angesichts der herrschenden methodologischen Le (e) hre, aber auch so mancher gespreizten Variante der allgemeinen „Paradigmendiskussion“. nimmt man es erleichtert zur Kenntnis, dass man über Methoden eben auch anders reden kann als in Formalismen oder aufgeblasenen Begriffsmonstern; wenn dann noch, wie in Ihrem Fall, die zugrundeliegende Erfahrungsbasis offen gelegt statt eingenebelt wird, kann man fast schon von einem Glücksfall sprechen.
Also unser herzliches Kompliment: Auch an den Stellen, wo Sie den smarten Zynikern unseres Fachs das Nörgeln allzu leicht machen …., überwiegen für uns die positiven Seiten des Buches, schon deswegen, weil es dem Leser nichts vormacht und ihn nicht mit Taschenspielertricks langweilt.
Ob sie bei den Meisterdenkern und Puristen der neuen akademischen „Qualifraktion“ einen ähnlichen Anklang finden werden, ist wohl eine andere Frage – wahrscheinlich kaum, aber warten wir‘s ab. Uns kommen diese Leute mit ihrer hochgezüchteten Diskursterminologie oft eher wie eine Neuauflage der von Ihnen erwähnten „Verandasoziologen“ vor, mit denen man über alles Mögliche reden kann, nur nicht über Probleme der Forschungspraxis----
Vieles, was sich als biographische Forschung ausgibt, kommt ja (böse gesprochen) tatsächlich über das Abtippen endloser Tonbandpassagen und einem vermeintlichen O-Ton – Fetischismus nicht hinaus!!!) ,…
Die einfache Tatsache, dass bei der teilnehmenden Beobachtung vor allem der Kopf und die Person des Beobachters die „Instrumente“ sind, auf die es ankommt, ist offenbar auch innerhalb der qualitativen Forschergemeinde in Vergessenheit geraten … Ch. W.
Mich ehrte dieser Brief von Professor Christian von Wolffersdorff sehr. Er hat Recht gehabt, ich wurde tatsächlich von diversen Spezialisten kritisiert, und einige meinten sogar, es wäre unwissenschaftlich, was ich da geschrieben habe. Und einigen gefiel nicht, dass ich bisweilen versuche, auch Heiteres in meine Darstellung fremden Lebens einzubauen.
Ich erwiderte solchen Kollegen, dass für sie nur das als Wissenschaft gilt, was traurig und unverständlich ist.
Um 1997 erhielt ich einen Brief von einem jungen Soziologen aus Köln, der unglücklich war über die üblichen Methoden der Soziologie und daher an mich einen Brief schrieb, der mich ehrte und freute. Dies ist der Brief, den ich abgeschrieben habe. Danach ist das Original zu sehen.
Lieber Herr Girtler,
als aufmerksamer Mensch und langjähriger Sozialwissenschaftler wird sie nichts mehr verwundern. Und so ist es wahrscheinlich, dass Ihnen Unbekannte schreiben. Ich habe mich dazu entschlossen, denn, nachdem ich nach Jahren des Studiums, in dem ich gründlich empirisch-analytisch, nomothetisch und zahlengläubig geschult wurde, ab einem gewissen Zeitpunkt gemerkt habe, dass das Wesentliche woanders liegt.
Als ich mein Studium begonnen hatte, kaufte ich mir im Elan alle möglichem Bücher, die etwas mit Soziologie zu tun haben könnten. Ihr Methodenbuch war darunter. In den Veranstaltungen sagte man mir bald, dass ich das Buch von Girtler nicht zu lesen brauche, (es) ist ja doch unwissenschaftlich. Jawohl, ich habe in Köln studiert, was weiter nicht schlimm wäre, aber ich bin da geblieben, allerdings mit gedämpfter Motivation als sich die Zweifel häuften.
Es kam, wie es kommen musste, Ärger mit dem Prüfer, schlechte Zensur. Man wäre doch so gut in Statistik gewesen und dann so etwas.
Um sich wenigstens einmal als Soziologe zu fühlen, begann ich vor ein paar Monaten mir ein neues Gebiet zu suchen,
Ich warf mein SPSS in die Ecke. Kaufte mir ein Diktiergerät und ein Mikro. Dann nervte ich die Schwester Oberin eines Franziskaner Konventes, der Teil eines Seniorenheims bei mir in der Umgebung ist. Seitdem sitze ich regelmäßig mit den 80jährigen und älteren Schwestern und spreche über ihr „Vorleben“.
Sie können sich vorstellen, dass das nicht immer ganz einfach ist: die Schwester Oberin im Nacken. Die es „nicht zu lang“ werden lassen will, zwischen Gebet und Mittagessen. Weiterhin brauche ich es Ihnen wohl nicht groß auszumalen, dass ich mich seitdem tatsächlich wie ein Soziologe fühle.
Und jetzt kommen die Detail-Probleme. Wie sind die Daten zu behandeln, wie viele Vorurteile ist man bereit, sich einzugestehen, wo ist der Wunsch der Vater des Gedanken? Usw.
Ich lieh mir Handbücher der qualitativen Sozialforschung aus, die mich jedoch nachdenklich stimmten. Hier wurde z.B. Habermas zum Heiligen erklärt, der Rest bestand in der Exegese. Ich denke jedoch, dass selbst wissenschaftliches Arbeiten eine kreative Tätigkeit sein sollte, mal davon abgesehen, dass ich schon genug mit der Selbst-Exegese zu tun habe.
So landeten die „Heiligenbücher“ in der Ecke.
Ich suchte weiter, aber finden Sie erst einmal einen Soziologen, mit dem man sprechen kann.
Nun erschrecken Sie wahrscheinlich: „Da kommt der auf mich“. Ehrlich gesagt, habe ich die Hoffnung, dass ich zum einen mit Fragen an Sie herantreten darf. Zum anderen haben Sie doch bestimmte Studenten gehabt, die sich heute als gemachte Männer vielleicht auch in meiner Nähe herumtreiben. Vielleicht gibt es die Möglichkeit des Kontakts? Wenn Sie einen Hoffnungsschimmer nach Köln senden könnten, wäre ich höchst erfreut. (Was natürlich hart untertrieben ist).
Alles Gute
Sebastian B.
Sehr erfreut und geehrt hat ich auch dieser Brief von dem Jesuiten Jörg Alt vom „Jesuit Refugee Service“ vom 29.8.1999. Er schreibt:
Sehr geehrter Herr Professor Girtler ,
nach Abschluss meiner Forschungsarbeit zur Lebenssituation „illegaler“ Migranten in Deutschland möchte ich es nicht versäumen, mich bei Ihnen herzlich für Ihre Ausführungen in Ihrem Buch „Methoden qualitativen Sozialforschung“ bedanken, auf welches mich die Experten des Mannheimer Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen aufmerksam machten. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon mitten in der Datenerhebung zu meiner Arbeit und hatte noch immer nicht den Rücken frei, weil wichtige Leute meine Ideen zum Vorgehen in diesem Milieu als „unwissenschaftlich“ kritisierten. Als ich dann Ihr Buch in die Hände bekam, war ich sehr erleichtert, denn auch Sie hatten offensichtlich persönlich erworbene „First Hand Experience“ und eine entsprechend erfrischende Pragmatik. Natürlich klärte man mich darüber auf, dass Sie und Ihre Methode „umstritten“ seien, aber das war mir zu diesem Zeitpunkt (und ist mir heute) mehr als egal. Darf ich Ihnen zum Dank die Ergebniszusammenfassung meiner Studie beilegen.
Mit allen guten Wünschen für Sie und Ihren „Stil“ bin ich Ihr
Jörg Alt
Um 199O wurde ich gebeten für das „Handbuch Qualitative Sozialforschung“ herausgegeben von Uwe Flick, Ernst von Karrdorff u.a. (Psychologie Verlags Union München 1991), einen Artikel mit dem Titel „Forschung in Subkulturen“ zu verfassen. Ich tat dies auch. In dem Aufsatz ging ich kurz auf einige Themen ein, die ich in meinem Methodenbuch genauer ausgeführt habe. Eine Zeit nach dem Erscheinen dieses Handbuches erhielt ich von einer freundlichen Dame vom Institut für Psychologie der Universität München einen liebenswürdigen Brief, den ich hier auszugsweise wiedergeben will:
„Sehr geehrter Herr Professor Girtler,
was mir bei Handbuchartikeln leicht passiert, dass ich mich nach jedem Absatz frage, was ich eigentlich gelesen habe, ist mir bei Ihrem Artikel in dem kürzlich erschienenen Handbuch über qualitative Sozialforschung nicht passiert. In Vorbereitung eines Methodenseminars hatte ich in diesem Buch zu lesen begonnen und war allmählich müde geworden, bis ich dann auf Ihren Text stieß. Er machte mich wieder munter, weil ich mir vorstellen konnte, weil Bilder in meinem Kopf entstanden, weil ich spürte, hier ist einer mit dem Leben auf Tuchfühlung gegangen. Überrascht und erfreut war ich auch dass Sie bei Ihren Forschungen Erfahrungen machten, die mir aus eigenen Untersuchungen vertraut sind ….“.
Hier ist die erste Seite dieses Briefes wiedergegen:
Ich bin dieser Dame sehr dankbar für diese Zeilen. Bemerkenswert ist wohl, dass im „rororo“-Verlag eine Zeit später ein ähnliches Handbuch von beinahe denselben Herausgebern erschienen ist. Mein Aufsatz fand sich in diesem Buch nicht.