(Dazu schrieb ich u.a. etwas im Landärztebuch - siehe das Kapitel davor - und in dem, von Hans Krawarik herausgegebenen Buch über Spital am Pyhrn "Das Dorf im Gebirge", 1990. In meinem Buch "Eigenwillige Karrieren habe ich ein Kapitel dem weitum bekannten, leider schon verstorbenen Spitaler Bergrettungsmann Siegfried Patzl gewidmet. Über ihn wird auch hier zu erzählen sein)
Zu der alten Gebirgs- und Touristenkultur in Spital am Pyhrn gehört auch der Bergrettungsdienst, dessen Arzt mein Vater war. Auf seine Zugehörigkeit zum Bergrettungsdienst war mein Vater besonders stolz. Die Bergrettungsmänner - damals gab es noch keine Frauen beim Bergrettungsdienst - waren so ziemlich die einzigen Leute im Dorf, mit denen mein Vater per Du war. Er hatte die höchste Achtung vor den Bergrettungsmännern und diese vor meinen Vater, der regelmäßig Erste Hilfe-Kurse u. ä. für den Bergrettungsdienst abhielt, sich um die von den Bergrettungsleuten zu Tal gebrachten Verletzten kümmerte und mitunter diese tüchtigen Männer begleitete. Aber auch meine Mutter war als Ärztin eingebunden, wie ich erzählen werde, in die Aktivitäten des Bergrettungsdienstes.
Die früheren Bergrettungsleute mussten noch ohne Hubschrauber und Geländewägen auskommen, um in Bergnot geratene Bergsteiger helfen und retten zu können. Sie waren gute Bergesteiger und Kletterer. Sie hatten meine höchste Achtung. Ich wäre gerne Mitglied dieser dörflichen Elitetruppe geworden, doch irgendwie kam es nicht dazu. Jedoch habe ich zwei Feldwände mit dem Bergrettungsmann Rupert Stummer, einem großartigen Kletterer, durchstiegen. Die eine Wand ist die des Stubwieswipfel und die andere die Westwand des Admonter Kaibling, eines bekannten Kletterberges im Gesäuse.
Über den Bergrettungsdienst will ich nun einiges erzählen, um es dem Vergessen zu entreissen.
Zunächst sei festzuhalten, dass Spital am Pyhrn eine interessante bergsteigerische Tradition hat.
Zu dieser gehört u. a. Alois Rohrauer, der mit dem späteren Bundespräsidenten Karl Renner die „Naturfreunde“ gegründet hat. Über ihn, der zunächst Sensenschmied war, meint Karl Renner in seinem autobiographischen Buch „An der Wende zweier Zeiten“, dass „dort oben“, also in den oberösterreichischen Bergen beim Teichltal, „ein Geschlecht“ entstand, „das den Stahl nur mit einem Kiesel zu ritzen, mit einem
Hammerschlag erklingen zu machen brauchte, um zu wissen,was das
Stück taugte... ". Und zum Bergsteigen der Leute vom Schlage eines Rohrauers hält Renner fest: "Gottes freie Natur bestaunt und betet man nicht an, man liebt sie und zwingt sie unter die eigenen Füße“.
In dieser Welt der Sensenschmiede übten meine Eltern als Landarzt und Landärztin ihre Tätigkeit aus, in einem Gebirgsort, der spätestens seit dem 19. Jahrhundert Touristen und Bergsteiger anlockte. Die Berge verlangten ihre Opfer. Und mit diesen Opfern hatten meine Eltern viel zu tun im Gegensatz zu den heutigen Landärzten, denen schnelle Rettungsautos oder Hubschrauber, die meist mit Notärzten unterwegs sind und die den Verletzten direkt in das Krankenhaus bringen, viel Arbeit abnehmen.
Es bestand daher früher ein enges Verhältnis der Ärzte zu jenen Leuten, die es sich zur Aufgabe gestellt haben, Menschen in Bergnot zu retten.
Zum Leben der alten Landärzte gehörte zunächst die Behandlung von Unfallopfern, zu denen vor allem jene Leute zählten, die am Berg sich als Holzknecht, Jäger, Wildschütz oder eben als Bergsteiger und Schi-Tourist Verletzungen zugezogen haben. Der alte Landarzt als Gemeindearzt war daher auch zuständig für das Rote Kreuz im Ort und dessen Rettungsfahrten, er war aber auch Mitglied des Bergrettungsdienstes.
Der Umgang mit Verletzten und Toten war Teil des Alltags des Arztes aber auch der Ärztin, meiner Mutter. Ich erinnere mich an Holzknechte, die bei ihrer schweren Arbeit am Berg und im Wald verunglückten und zu meinen Eltern gebracht wurden.
Meine Mutter, die Ärztin, erzählte mir dazu, eines Tages hätten Burschen, vielleicht waren es Bergrettungsmänner, einen Toten in die Ordination gebracht. Dieser Tote wurde nicht auf einer Tragbahre gebracht, sondern auf Tannenästen. Er hatte keine Schuhe an.
Dies alles gab der Ärztin zu denken. Erst nach und nach erfuhr sie, dass dieser Bursche als Wildschütz bei der Jagd nach einer Gams in den Felsen geklettert und dann abgestürzt sei. Er hatte bloss Socken an. Dies deutete offensichtlich darauf hin, da er unbeschuht wohl besser klettern konnte. Oder er war ohne Schuhe unterwegs, um im Stile eines echten Wildschützen keine Spuren zu hinterlassen.
Jedenfalls stellte die Ärztin den Tod des unglücklichen Wildschützen fest, so daß er in die Totenkammer gebracht werden konnte. Diese Erzählung der Ärztin stimmt mit dem Bericht aus der Chronik des Bergrettungsdienstes vom Jahre 1954 überein, in dem es bloss heisst: "Franz Gweiner, Oberweng, stürzte beim Wildern vom Kleinen Pyhrgas tödlich ab."
Es war vor allem der Bergrettungsdienst, der im Leben des Landarztes und der Landärztin im Gebirge eine wichtige Rolle spielte.
Daher gestatte ich mir, zunächst einmal auch einen Einblick in die Geschichte des Bergrettungsdienstes, vor allem hinsichtlich seiner Beziehung zum Arzt, zumal dieser auch um ein gediegenes medizinisches Wissen der Bergrettungsmänner sich zu kümmern hatte und vor ihnen Vorträge hielt.
Bergunfälle werden schon um die Jahrhundertwende berichtet.
Solche schildert zum Beispiel in seinen "Heimatbildern" der frühere Wildschütz und Poet Emmerich Grillmayer. Er erzählt unter anderem, dass 1906 der Jäger Josef Kittinger einen am Bosruck tödlich Verunglückten "aus der Wand holte".
Früher dürften es also, wie diese Geschichte andeutet, Jäger gewesen sein, die am Berg Verunglückte von diesem holten. Der heutige, nach dem letzten Krieg eingesetzte unpolitischen "Bergrettungsdienst" des Dorfes geht auf die "Alpine Rettungsstelle" zurück , welche von dem um 1905 gegründeten Deutschen und Österreichischen Alpenverein eingerichtet worden war. "Diese Rettungsstelle übernahm", wie Herr Rädler in seiner Chronik des Bergrettungsdienstes von Spital am Pyhrn schreibt, "alle Rettungsaktionen und Hilfsmassnahmen rings um Spital am Pyhrn, und war mit ihren freiwilligen Helfern immer und überall zur Stelle, wo es zu helfen und zu retten galt."
Diese "Alpine Rettungsstelle" wurde 1940 in die "Bergwacht" umgewandelt. Nach dem Krieg löste man diese wohl aus politischen Gründen auf und gründete 1946 den "Bergrettungsdienst". Dessen Gründungsversammlung fand im Gasthof Rohrauer vor der Kirche statt, den es heute nicht mehr gibt. Dafür residiert heute im ersten Stock dieses Hauses eine freundliche Zahnärztin.
Der Bergrettungsdienst war eingebunden in das Leben des Dorfes. Für die meisten Dorfbewohner waren die Bergrettungsleute echte Helden, auch für mich. Die vom Bergrettungsdienst veranstalteten Kränzchen im Sommer und Faschingsbälle im Winter waren Veranstaltungen, an denen der ganze Ort teilhatte.
Spannend ist die Chronik des Bergrettungsdienstes, sie ist voll von kühnen, aber auch schaurigen Geschichten, in die immer wieder der Arzt eingebunden wird.
Die Einsätze waren mannigfaltig. Sie machten Freude, brachten aber auch Ärger ein, wie folgende Geschichte aus der Chronik des Bergrettungsdienstes zeigt. Der Chronist war Herr Rädler. Die Chronik verweist zunächst auf die Mühen der alten Rettungsmänner bei Bergungen, in einer Zeit, in der man noch mit Pferdefuhrwerken auf den Bergstrassen sich plagend unterwegs war.
Ihre späteren Kollegen hatten es leichter, denn bald nach dem Krieg, zumindest schon in den fünfziger Jahren, verfügte man über Autos, die einen schnelleren Einsatz möglich machten.
Herr Rädler hielt fest: "Im Sommer 1942 wurde der Leiter der Alpinen Rettungsstelle Herr Grundner durch einen Holzknecht davon verständigt, dass unweit der Kernhütte ein Tourist abgestürzt sei. Herr Grundner beauftragte die Rettungsmänner Sepp Radlingmeier, Hans Neubauer, Sepp Imnitzer und Hirzenberger den Verunglückten zu bergen. Es regnete in Strömen,als der Bergungstrupp gegen 22 Uhr mit dem Pferdegespann vom Gasthof Grundner wegfuhr. Beim Kalkofen wurde halt gemacht und die Pferde versorgt. Nun ging es ausgerüstet mit einer Tragbahre, Fackeln und Seile u.a.m. zum Aufstieg auf die Kernhütte. Gegen 2 Uhr früh langten die Männer bei der Kernhütte an. Nach langem Klopfen öffnete schließlich die Sennerin und war sichtlich überrascht, als sie die Rettungsmänner sah. Es stellte sich nämlich heraus, dass kein Tourist abgestürzt ist, sondern bloß der Rucksack eines im Nebenraum der Hütte friedlich schlafenden Pfarrers. Dieser geistliche Herr wurde nun unsanft geweckt, er wurde geschimpft und beauftragt, am nächsten Tag sich bei Herrn Grundner zu melden. Er erzählte, dass er in der Nähe der Hütte in den Felsen herumgeklettert sei. Bei Einnahme der Jause sei der Rucksack plötzlich von selbst ins Rollen gekommen und abgestürzt. Er beinhaltet einen wertvollen Fotoapparat. Bergschuhe, eine Windbluse u.a.m.. Schließlich bat der Pfarrer die Männer, sie mögen hier auf der Hütte bleiben und in der Früh bei Tageslicht nach dem Rucksack suchen helfen. Dieses Ansinnen wurde abgelehnt, da alle vier schon ganz durchnässt waren. Man versprach aber, bei schönerem Wetter, vielleicht am Sonntag, einen Suchtrupp hierher zu entsenden. Dieses Versprechen wurde auch eingehalten. Sechs Mann der Rettungsstelle suchten den ganzen Sonntag die Wände und Latschenfelder ab. Der Rucksack konnte aber nicht gefunden werden. Erst zwei Jahre später wurde er vermodert von dem Holzknecht Alois Emminger in einem Latschenfeld aufgefunden. Der Inhalt war gleichfalls unbrauchbar. Am Tag nach dem Einsatz hatte sich der geistliche Herr aus Braunau am Inn bei Herrn Grundner gemeldet und sich entschuldigt. Es wurden ihm 70 Reichsmark an Bergungskosten auferlegt. So viel Geld hatte der Herr Pfarrer nicht bei sich und bezahlte vorläufig nur 35 RM mit dem Versprechen, den Rest mit der Post zu senden. Es verging ein halbes Jahr und trotz Mahnungen kam kein Geld.
Schließlich wurde es Herrn Grundner zu bunt und er übergab die ganze Angelegenheit einem Rechtsanwalt. Sofort traf das Bergungsgeld ein".
Die Rettungsmänner hatten also harte Arbeit zu leisten. Technische Hilfen, wie Hubschrauber und Funkgeräte standen ihnen noch nicht zur Verfügung. Erst 1958 wird in der Chronik von einem Hubschraubereinsatz samt Funkgesprächen berichtet.
Wie schwierig und gewaltig – auch hinsichtlich des Durstes - die früheren Einsätze sein konnten, zeigt auch folgender Bericht: "Ewald Milichovsky, Wagnergehilfe, und Rudolf Ecker, Forstadjunkt, unternahmen in den Morgenstunden des 5.7.1947 eine Bergtour: die Durchsteigung der Hallermauern. Eine genaue Route gaben sie nicht bekannt. Beide waren gute Felsgeher und Kletterer. Als sie am Abend nicht von dieser Tour zurückkehrten und es an diesem Tag mehrere schwere Gewitter gab, wurde ein Unfall angenommen. Eine Gruppe von vier Mann stieg in den frühen Morgenstunden auf den Pyhrgas. Eine zweite Gruppe erstieg den Scheiblingstein. Der Rest erstieg den Kleinen Pyhrgas und suchte das Winklerkar ab. Am Abend kehrten alle Suchtrupps ergebnislos zurück. Nun ordnete der Landesleiter des Bergrettungsdienstes Ignaz Treuschtz Großalarm an. Es wurden die Ortsstellen Linz, Windischgarsten, Bad Hall und Spital am Pyhrn aufgerufen.
Im Gasthof Rohrauer wurde das Hauptquartier errichtet und täglich waren mehrere Suchtrupps unterwegs. Nach fünf Tagen wurde diese Aktion ergebnislos abgebrochen.
Schließlich gelang es dem Spitaler Bergrettungsmann Franz Hackl, die beiden Vermissten in der Ostwand des Monsberges tot auf einem Felsplateau zu sichten. Sie wurden nach mühseliger Kletterei und Abseilarbeit geborgen und mit einem amerikanischen Armeewagen in die Totenkammer von Spital am Pyhrn überführt. Als Todesursache wurde vom Arzt Dr. Girtler Tod durch Blitzschlag festgestellt".
Bemerkenswert ist ein Nachsatz zu diesem Bericht, ein Nachsatz, der auch auf den Durst verweist, den die Rettungsleute wohl hatten: "Die Nachwehen dieses Großeinsatzes war eine Bergungskostenrechnung einschließlich des Versicherungs- Sterbegeldes von annähernd 3000 Schilling. Hiebei gab es mit dem Alpenverein als Versicherungsträger viel Schreiberei, da bei diesen Kosten eine Rechnung von 60 Krügel Bier aufschien. Schließlich wurde alles bezahlt."
Aber nicht nur am Berg beim Klettern Verunglückte wurden von den Bergrettungsleuten geborgen. Darauf bezieht sich dieser Hinweis aus der Chronik: "Albine Breiteneder aus Linz erlitt am Pyhrgasgatterl einen Beckenbruch durch Sturz in den Abort. Die Bergung wurde durchgeführt durch: Rädler, Eibl, Kayr und Rohrmoser."Das frühe offene Plumpsklo hatte sichtlich seine Tücken und konnte einen regelrechten Absturz herbeiführen, der den Bergrettungsdienst in Marsch setzte.
Auch um solche Absturzopfer mußte der Landarzt sich kümmern.
Folgende Geschichte verweist auf die harte Arbeit als Bergrettungsmann, aber auch auf die einfachen Mittel, mit denen Verunglückte oder Tote zu Tal befördert wurden. Drei Touristinnen wollten im Juli 1956 auf den Großen Pyhrgas gehen. Sie verirrten sich dabei im Nebel.
Eines der Mädchen rutschte aus und "stürzte ca 300 Meter in das hintere Holzerkar ab, wo sie tödlich verletzt liegen blieb“. Eine ihrer Begleiterinnen verletzte sich beim Abstieg schwer. Weiter heißt es dabei in der Chronik: "Um 19h30 stiegen Männer des Bergrettungsdienstes und der Gendarmerie zur Unfallstelle auf. Sie konnten wegen starkem Nebel und der bereits eingetretenen Finsternis Rosa Irrmann nicht auffinden. Und waren gezwungen, im Freien zu biwakieren. Bei Morgengrauen
setzten sie die Suche fort und erreichten die Abgestürzte um 4 Uhr früh. Sie war bereits tot. Unter zuerst schwierigen Geländeverhältnissen wurde die Tote zur Holzeralm transportiert. Von dort fuhr sie der Hüttenwirt der Gowilalm mittels Pferdegespann in die Totenkammer nach Spital am Pyhrn. Die andere Touristin
Herta Gebeshuber wurde von der Einsatzgruppe zum Arzt nach Spital am Pyhrn gebracht".
Wie es die Chronik zeigt und ich aus eigener Erfahrung weiß, waren und sind die Bergrettungsleute bei ihren Rettungseinsätzen durch hohes Pflichtgefühl und Ehrbewusstsein bestimmt.
Einmal lehnten sich Bergrettungsmänner daher - es ging um ihre Ehre - sogar gegen ihren eigenen Ortsstellenleiter auf. Dieser war 1952 anlässlich des Unfalls eines Holzknechtes der Meinung, für Holzknechte, die bei der Ausübung ihres Dienstes einen Unfall erleiden, sei der Bergrettungsdienst nicht zuständig. Tatsächlich hatte sich der Ortstellenleiter geweigert, Bergrettungsleute zu einem Holzknecht, der beim Fällen eines Baumes schwerste Kopfverletzungen erlitten hatte, auf den Berg zu schicken. Er meinte, der Sägewerksbesitzer, für den der Holzknecht tätig war, solle selbst mit seinen Arbeitern den Verunglückten holen, schließlich verdiene der Sägewerksbesitzer "Millionen". Da keine Bergrettungsleute - sie wussten von diesem Unfall nichts - sich zu dem Verletzten aufmachten, rief ein alter Holzknecht aus eigenem Antrieb Holzknechte zusammen und organisierte die Rettung.
Mit seiner Weigerung entsprach der Ortsstellenleiter zwar den Bergungs- Vorschriften des Bergrettungsdienstes, jedoch nicht den Vorstellungen der meisten Bergrettungsleute, die von dem Unglück nichts erfahren hatten, und auch nicht den Vorstellungen der Bevölkerung des Dorfes, die die Bergrettungsleute "beflegelten", wie Rädler in der Chronik schreibt. Rädler hält dabei noch fest: "In ein Gasthaus durften wir BRD Männer überhaupt nicht mehr gehen. Unsere Unwissenheit über diesen Unfall glaubte uns niemand. Es kam nun deswegen zu ersten Auseinandersetzungen mit dem Ortsstellenleiter. Er stand nach wie vor auf dem Standpunkt, daß uns solche Unfälle nichts angehen... Diese Einstellung gab immer wieder Anlass zu Streitigkeiten...
Ich (der Chronist Rädler) vertrat immer wieder den Standpunkt, wenn die Gemeinde Spital am Pyhrn den BRD jährlich mit Geld unterstützt, so haben wir die moralische Verpflichtung, jeden Spitaler, ganz gleich wer er ist, wenn er im Berg schwer verunglückt, beizustehen. Meine Ansicht wurde von den meisten BRD Männern gut geheißen. Der Großteil der BRD Männer sind eben Idealisten". Der Arzt (also mein Vater) jedenfalls, wie aus dem Bericht hervorgeht, stand auf der Seite der Bergrettungsleute.
Das Verhalten des Ortsstellenleiters ärgerte jedenfalls die Leute im Dorf, vor
allem aber den Herrn Rädler, den Chronisten, der wegen des Ortsstellenleiters zu leiden hatte. In der Folge kam es zu einem Bruch zwischen den Bergrettungsleuten und ihrem Ortsstellenleiter, der schließlich zurücktrat. Jedenfalls zeigt diese Geschichte, dass es den Bergrettungsleuten um eine hohe Ethik geht und dass ihnen der Mensch mehr bedeutet als kleinliches Geplänkel . Herr Rädler selbst betont: "Ich habe seit meinem Beitritt zum BRD (bis 1955) ca. 30 Personen geborgen. Oft ganz allein mit meinem Pferdefuhrwerk. Sämtliche geldliche Entschädigungen hierfür habe ich und auch die meisten anderen BRD Kameraden zu Gunsten der Kameradschaftskassa abgeliefert".
Dass Bergrettungsdienst- Leute bei jeder Art von Unglück sich einsetzten, darauf
deutet auch diese Meldung in der Chronik des Herrn Rädler hin:
"Hochwasser in Spital am Pyhrn Hiebei zeichnete sich der BRD- Mann Franz Großauer besonders aus. Er befreite den bis zur Brust im Wasser stehenden Hausmeister des Stiftes Hermann Pittricher und seine Familie aus der überfluteten Wohnung durch Herausreissen des Fenstergitters".
Herr Rädler, der brave Chronist, verband mit seiner Mitgliedschaft zum Bergrettungsdienst eine hohe Aufgabe. Er litt auch mit den Menschen, die am Berg ihr Leben ließen. Davon kündet diese Notiz: „Am 30.Mai 1954 wurde der Schustermeister Georg Tyrna aus Windischgarsten vermißt gemeldet. Alle in den darauf folgenden Tagen durchgeführten Suchaktionen des BRD blieben erfolglos. Er wurde erst nach vier Jahren am 7.5.1958 als Skelett im Gebiete des Dicking aufgefunden. Als Todesursache konnte einwandfrei eine Vergiftung durch das Pflanzenschutzmittel E 605 festgestellt werden. Tyrna war Volksdeutscher und dürfte aus Schwermut wegen des Verlustes seiner Heimat und seines Besitzes Selbstmord verübt haben."
Ich erinnere mich an den Transport dieses Skelettes durch Bergrettungsmänner auf einem Karren.
Der Chronist Herr Rädler war stolz auf die Leistung der Bergrettungsmänner. Darauf verweist ein Zeitungsausschnitt, den Herr Rädler liebevoll in der Chronik 1958 wiedergibt (leider ohne Angabe der Zeitung). In diesem heißt es: "
Ehrung verdienstvoller BRD Männer Der Bundespräsident hat drei Spitaler BRD Männern Peter Rohrmoser, Siegfried Patzl und Hubert Trojer die silberne Medaille am roten Band für Verdienste um die Republik Österreich verliehen".
Besonderes Ansehen als Bergrettungsmann hatte sich Siegfried Patzl, seine Freunde nannten ihn "Patzl Siegerl", erworben.
Ein Blick auf sein Leben ist auch ein Blick in die Geschichte der Bergrettung. Daher sei Patzl Siegerls Leben hier abrisshaft erzählt, denn es verweist auf ein altes Leben in kleinbäuerlichert Armut, aber auch auf alte Techniken des Kletterns und Rettens.
Patzl Siegerl wurde 1925 in Spital am Pyhrn in einem kleinen Bahnwärterhaus beim Bosrucktunnel geboren.
Sein Leben ist bestimmt durch die Berge. Es ist eine spezifische Bergsteiger-Tradition, der Siegerl angehört. Seine Beziehung zu den Bergen ist eine universelle: er wird Bergrettungsmann, im Krieg dient er als Gebirgsjäger und als Berg- und Schiführer lernt er später die Westalpen näher kennen.
Sein Vater war Eisenbahner, ein "fanatischer Naturmensch", wie Siegerl ihn beschreibt. Er kannte alle Käfer, Blumen und Bäume. Siegerls Kindheit war hart. Die Eltern hatten kaum Geld.
Nach der Schule mit 14 Jahren findet Siegerl Arbeit im Sensenwerk.
Zum Bergsteigen hatte er schon seit seiner frühen Kindheit eine tiefe Beziehung. Mit 5 Jahren stand er schon auf dem Großen Pyhrgas.
Barfuß marschierte er hinauf, denn für Kinder gab es im Sommer keine Schuhe. Er erlebte oben am Pyhrgas einen wundervollen Sonnenaufgang. An den erinnerte sich Siegerl mir gegenüber mit Begeisterung.
Bereits im Alter von 17 Jahren fragte er den beliebten Gastwirt Grundner, den Obmann der Spitaler Bergwacht ,ob er dieser beitreten dürfe. Grundner wollte wissen, bis zu welchem Schwierigkeitsgrad im Klettern er sich traue. Seine Freunde riefen: bis zum "Sechser"! Das war 1942. Gleich darauf wurden er und seine Spitaler Freunde, ebenso gute Bergsteiger, nach St.Johann in den Wilden Kaiser geschickt, wo man sie als Gebirgsjäger einkleidete. Siegerl wird Heeresbergführer und in Spital am Pyhrn während des Krieges Einsatzleiter und immer wieder muß er auf die Berge und in die Felswände, um Abgestürzte, Verirrte und Hilflose in das Tal zu bringen. Eine schwierige Bergung führte er 1943 durch, als am Bosruck ein Obergefreiter der Flak beim Klettern in einem Riß hängen geblieben war. Damals gab es noch keine speziellen Kletterschuhe, so kletterten Siegerl und die anderen Retter in ihren Socken. Gefährlich war diese Bergung noch zusätzlich, weil zu dieser Zeit wegen eventueller Feindflugzeuge in der Dunkelheit keine Lampen verwendet werden durften. Nur eine alte Stalllaterne, deren Zylinder schwarz angestrichen war, hatte Siegerl bei sich.
1944 rückt Siegerl zu den Gebirgsjägern ein. Zuerst ist er in Italien, dann an der russischen Front. Im September 1945 entlassen ihn die Russen, er marschiert von Brünn nach Wien. Bald ist er wieder in Spital am Pyhrn. Es heißt, eine Bergrettungsmannschaft ist notwendig. Die alten Freunde von der Bergwacht tun sich zusammen. Sie besitzen kaum geeignetes Rettungszeug. Nur zwei Seile: eines mit 30 und eines mit 25 Meter. In diesen Nachkriegsjahren häufen sich die Bergunfälle, denn viele Menschen suchen nach dem Krieg in den Bergen Erholung und Abwechslung, doch ihre Ausrüstung ist schlecht. Das merken Siegerl und die Leute von der Bergrettung.
Nicht nur aus Vergnügen und zur Erholung steigen die Leute damals auf die Berge, viele sind auch auf der Flucht, sie wollen in die amerikanische Zone. Einige verunglücken tödlich.
Zum Klettern verwendet Siegerl nun Filz, welcher auf leichte Schuhe geklebt wird. Doch dieser Filz nützt sich wegen des rauen Felsens bald ab ,er ist schwer aufzutreiben. Siegerl entdeckt im Hauptquartier der Amerikaner in Spital am Pyhrn einen Filz, auf dem steht allerdings eine Schreibmaschine. Bei einer Vorsprache im Hauptquartier stiehlt Siegerl den Filz und versteckt ihn unter dem Hemd. Mit diesem amerikanischen Filz kann Siegerl seine Kletterschuhe erneuern.
Insgesamt hat Siegerl an ca 800 Bergungen teilgenommen, die meisten hat er selbst geleitet. Er erinnerte sich an 49 Tote.
Die wohl traurigste Bergung für Siegerl war die am Dachstein zu Ostern 1954.
10 Heilbronner Kinder und ihre 3 Lehrer waren trotz Warnungen in Richtung Gjaidalm aufgestiegen. Ein Wetterumsturz nimmt ihnen die Sicht, sie irren herum, kommen nicht weiter und erfrieren. Man findet sie nicht. Nach ein paar Tagen wird Siegerl von der Landesleitung des oberösterreichischen Bergrettungsdienstes beauftragt, eine Gruppe aus tüchtigen Bergrettungsleuten für die Suchaktion zusammenzustellen.
700 Männer, darunter über 300 Männer der Bergrettung, sind tagelang auf der Suche. Am 9. Tag findet man die ersten Toten. Die letzten kommen erst nach 6 Wochen an das Tageslicht. Für Siegerl und die anderen Bergsteiger sind es erschütternde Tage. Sie leiden mit den Eltern der toten Kinder.
Für seine Leistungen als Bergrettungsmann wird Siegerl 1958 vom österreichischen Bundespräsidenten, wie schon erwähnt, mit der Österreichischen Verdienstmedaille am roten Bande" belohnt. 1970 erhält Siegerl seine schönste Auszeichnung, das "Grüne Kreuz" des Alpenvereins, den höchsten Orden, den dieser zu vergeben hat. Siegerl ist der 3. Oberösterreicher mit diesem Ehrenzeichen. In der Ehrenurkunde zum "Grünen Kreuz" heißt es:
"In dankbarer Anerkennung für vielfache, unter Lebensgefahr vollbrachte Leistungen im Dienste der bergsteigerischen Kameradschaft wurde Herr Siegfried Patzl das 1923 für besondere alpine Rettungstaten gestiftete Alpenvereinsehrenzeichen für Rettung aus Bergnot verliehen".
Siegerl blickt auf ein packendes Leben als Bergrettungsmann und Bergführer zurück. Mit einigem Stolz zeigt er mir einen Brief, den ihm seine alte Lehrerin geschrieben hat. Sie hatte erfahren, dass Siegerl mit dem "Grünen Kreuz" geehrt wurde.
In dem Brief heißt es:
"Lieber Herr Patzl! Aus einer heutigen Zeitungsnotiz las ich, daß Sie durch ihre großen Verdienste um die Bergrettung mit der Auszeichnung des Grünen Kreuzes geehrt wurden. Zu den vielen Gratulationen, die Ihnen zukommen, möchte auch ich nicht fehlen, Ihnen zu dieser Auszeichnung zu gratulieren. Ich habe sie noch als begabten und aufmerksamen Schulbuben in Erinnerung. Und freue mich besonders, dass aus den Reihen meiner einstigen Schüler ein so tapferer und vorbildlicher Mensch hervorgegangen ist...Ihre einstige Lehrerin Luise N."
Siegerl meint dazu: "Darüber habe ich mich sehr gefreut. Diese Lehrerin haben wir gefürchtet. Den Teufel hätte man nicht mehr fürchten können. Aber, wie ich diesen Brief bekommen habe, da konnte ich nicht glauben,dass es so etwas gibt. Gefreut habe ich mich".
Ich habe diese Geschichte des alten Bergrettungsmannes gebracht, um zu zeigen, dass es so etwas wie eine Kultur der Bergrettung gab und auch noch gibt, die bravouröse Männer hervorgebracht hat. Sie sind es, mit denen der Landarzt in engem Kontakt steht, und sie sind es auch, die den Arzt und die Ärztin begleiteten, wie wir noch sehen werden, wenn es darum ging, in den Bergen verunglückten oder erkrankten Menschen zu helfen.
Weitergeführt wird die Freude am Einsatz in den Bergen von Männern wie Franz Kayr und Rupert Stummer. Auch Franz Kayr wurde mit dem „Grünen Kreuz“ geehrt.
Der Arzt und die Ärztin erlebten die Einsätze der Bergrettung hautnah.
Dem alten Landarzt kam dabei auch zugute, daß er auf eine Karriere als Militärarzt zurückgreifen konnte. Die Erfahrungen während des Krieges mögen ihm geholfen haben, mit schwierigen Unfallsituationen entsprechend fertig zu werden. Auf seine frühere Eigenschaft als Militärarzt verwiesen nicht selten frühere Patienten in ihren Gesprächen mit mir. Manche schienen beinahe stolz darauf gewesen zu sein, von einem Arzt mit einer derartigen Erfahrung im Krieg behandelt worden zu sein.
Jedenfalls hatten es die alten Landärzte grundsätzlich schwerer als ihre heutigen Kollegen, die per Funk oder sonstwie auf schnellem Weg Rettungsfahrzeuge und Hubschrauber herbeizuholen vermögen.
Im Wesentlichen ist die Betreuung von Unfallopfern bei heutigen Ärzten auf die Erste Hilfe beschränkt, während die alten Landärzte sich wohl intensiver mit den am Berg Verunglückten zu beschäftigen hatten. Heute wird der Verletzte, der zum Beispiel auf einer Schipiste zu Schaden kam, oft direkt in das Krankenhaus gebracht. Es scheint nicht mehr notwendig zu sein, daß der ansässige Landarzt sich um das bedauernswerte Opfer kümmert, da der Notarzt zur Stelle ist.
Ich erinnere mich, wie um 1950 ein Linzer Schifahrer an einen Baum fuhr, schwer verletzt liegen blieb und schließlich in die Ordination meines Vaters, des Landarztes, gebracht wurde. Es dauerte Stunden, bis ein Krankenauto kam, um den Verunglückten in das Krankenhaus zu bringen. Während dieser Zeit kümmerte sich mein Vater, rührend um den unglücklichen Schifahrer, dem es sehr schlecht ging. Auch ich als Bub hatte großes Bedauern für den Schifahrer. Auf dem Weg in das Krankenhaus ist er wahrscheinlich an einer Fettembolie, verursacht wohl durch Knochenbruch, gestorben.
Besonders schwierig war es für die Ärzte, wenn Verletzte oder Erkrankte in unwegsamem Gelände auf Rettung warteten. Aber auch die Ärztin wurde gerufen.
Über einen ihrer Einsätze erzählte mir der frühere Bergrettungsmann Dieter Hoffmann eine spannende Geschichte:
"Es war 1959. Ich war damals mit meinen Geschwistern in den Weihnachtsferien auf der Oberen Gammering Alm. In der Unteren Gammering Alm waren zu selben Zeit ein gewisser Rudi mit seiner Freundin. Die beiden waren nicht verheiratet. Auch sein Sohn war dabei. Oft haben wir unsere Hüttennachbarn besucht und mit ihnen gemeinsam gefeiert. Oder sie sind zu uns herauf gekommen. Einmal, es war spät am Abend, kam der Sohn des Rudi ganz aufgeregt zu unserer Hütte gelaufen und hat gesagt, ich soll schnell kommen, ich soll dem Vater helfen. Die Frau ist krank. Ich bin zum Rudi hinunter gerannt. Es war finster, es lag viel Schnee. Die Frau dürfte sich an diesem Tag überanstrengt haben. Sie hatte einen Blutsturz. Die Frau Doktor hat gemeint, dass sie vielleicht am Beginn einer Schwangerschaft gewesen ist. Jedenfalls hatte sie einen Blutsturz. Wie ich in die Hütte gekommen bin, habe ich die Frau im Vorraum der Hütte auf einer Pritsche liegen gesehen. Die Hüttenwand neben ihr war durch Finger mit Blut verschmiert. Sie wird das in ihrer Verzweiflung gemacht haben. Ich war furchtbar erschrocken, wie noch nie. Man kann sich das nicht vorstellen. Ich bin gerannt wie um mein Leben. So geschwind ich konnte bin ich zum Patzl Siegerl, den Mann vom Bergrettungsdienst, der damals als Eisenbahner bei der Eisenbahnstation Linzerhaus wohnte.
Inzwischen hat der Rudi die Frau auf eine ausgehängte Stalltür gelegt und versucht, sie auf dieser in das Tal hinunter zu schleppen. Er ist nicht weit gekommen auf diese Weise, denn die Gräben waren zugeweht und in diesen wäre er versunken. Später hat die Frau Doktor (meine Mutter) gemeint, gerade dadurch hätte der Mann der Frau das Leben gerettet, eben durch die Kälte, in der sie liegen mute. Dies hat den Kreislauf gebremst, wodurch sie weniger Blut verlor. Sie lag unterhalb der Hütte bei den ersten Bäumen. Ich bin also zum Patzl Siegerl. Der hat mich weiter zum Gressenbauer, den Wildmeister, geschickt. Bei diesem war gerade ein Jagdgast von der VOEST. Dieser hatte einen VW Käfer als Auto. Ich war so aufgeregt, daß ich bloß gejapst habe. Der Gressenbauer hat sehr überlegen getan. In so einem Fall, überhaupt wenn ein Jagdherr dabei war, sprach er nach der Schrift. Er meinte, ich solle mich beruhigen und darüber nachdenken, was ich überhaupt sagen will. Etwas ruhiger erzählte ich dann die Geschichte mit der kranken Frau. Der Jagdgast aus Linz hat sich sofort bereit erklärt, mit seinem Auto in den Ort zu fahren, um Bergrettungsleute zu verständigen. Es war ein Glück, dass der Eibl Ludwig gerade mit einem LKW, mit dem er Holz geführt hat, am Hauptplatz stand. Zufällig standen auch ein paar Bergrettungsleute herum. Denen teilte der Jagdgast mit, was passiert ist. Weil der Eibl mit dem LKW da war, konnte man blitzartig starten. Nur den Akja haben sich die Bergrettungsleute noch geholt und vielleicht etwas Wärmeres zum Anziehen. Gute Schuhe hatte man damals im Winter ohnehin an. Der Herr Doktor konnte nicht mit, weil er gerade einen Hexenschuss hatte. So mußte die Frau Doktor alleine mit uns auf die Gammering hinauf. Die Frau Doktor ist mit dem Rettungsauto, das sie gleich verständigt hatte und das gleich gekommen war, zum Pflegerteich hinauf gefahren.
Mit dem Auto fuhr man damals noch bis zum Haus des Jägers Kerschbaumer am Beginn des Weges zur Wurzeralm. Dort konnte man parken. Dann sind wir, die Frau Doktor und die Bergrettungsleute, hinauf auf die Gammering.
Es war ein schwieriger Marsch, besonders für die Frau Doktor, die mit uns Bergrettungsleuten mithielt. Sie erzählte mir, sie habe ein Pervetin geschluckt, so eine Tablette, wie sie auch der Nanga Parbat Bezwinger Hermann Buhl im Himalaya eingenommen hat. Solche Sachen hat die Frau Doktor gerne erzählt, sie hat ja alles gesagt, was ihr so in den Sinn gekommen ist. Sie war eine sehr temperamentvolle Frau! Ein bisserl dürfte sie sich wegen der Dunkelheit gefürchtet haben, meinte zumindest der Reiter Toni. Denn er ist uns entgegen gekommen. Die Frau Doktor, die vorne wegmarschiert ist, hatte zwar auch eine Stirnlampe am Kopf, aber sie hat ihn nicht gleich erkannt. Sie hat gerufen: 'Wer sind Sie? Hier ist die Frau Doktor Girtler!' Sie war hoch beglückt, daß es nur der Reiter Toni war. Wie wir auf die Gammeringalm kamen, haben wir die Frau ein Stück vor der Alm auf dem Brett, der ausgehängten Stalltür, liegend gefunden.
Der Rudi war bei ihr. Die Frau Doktor hat ihr gleich eine Spritze verpasst, in die Vene hinein. Ich kann mich erinnern, wie die Frau Doktor den Arm der Frau ausgelassen hat, dass dieser leblos zur Seite fiel. Es hat ausgeschaut, als ob die Frau schon tot wäre, aber sie war es Gottseidank noch nicht. Wir haben die Frau im Akja zu Tal gebracht. Mit dem Rettungsauto, das unten gewartet hat, wurde sie in das Krankenhaus in Rottenmann eingeliefert. Die Frau Doktor hatte bestimmt, daß man sie dorthin bringt. Nicht nach Kirchdorf, dorthin hätte es bei den damaligen Straßenverhältnissen länger gedauert.
Die Ärzte im Krankenhaus sollen gesagt haben, wäre die Frau eine Viertelstunde später eingelangt, sie wäre gestorben. Der Rudi hat seine Freundin im Rettungsauto begleitet. Am nächsten Vormittag habe ich ihn wieder getroffen. Er hat berichtet, daß die Frau über dem Berg ist. Jedenfalls die Frau Doktor hat viel dabei geleistet. Sie war fast schneller als die Bergrettungsleute bei der Kranken. Sie ist gelaufen wie ein Schneider."
Und die Lokalzeitung "Kremstal Bote" brachte dazu unter der Überschrift "Ärztin und BRD im Einsatz" eine spannende Meldung, die gut die vorherige Erzählung ergänzt: "Am 3. Jänner 1959 wurde um ca 19 Uhr der hiesige BRD in höchster Eile zur
Hilfe gerufen. Auf der Gammering hatte eine Frau einen Blutsturz erlitten. Es handelte sich bei der Lebensrettung um Minuten. In kürzester Zeit waren die Bergrettungsmänner einsatzbereit und wurden mit einem Privatauto zum Pflegerteich gebracht. Inzwischen brachte das Rettungsauto auch die Ärztin Dr.Leopoldine Girtler in Vertretung ihres erkrankten Gatten zum Pflegerteich und machte sich diese ganz alleine in der Nacht auf den Weg zur Gammering.
Auch als sie dann am Draxlanger von den BRD.Männern eingeholt wurde, hielt sie tapfer mit jenen Schritt, und so war die Rettungsmannschaft in äußerst kurzer Zeit bei der Erkrankten. Dies noch dazu bei ziemlich hohem Schnee, so daß die Helfer bis zu den Hüften darin versanken. Nachdem die Kranke behandelt und versorgt war, wurde sie mit dem Rettungsschlitten zu Tal gebracht, wo schon das Rettungsauto bereit stand und sie in das Rottenmanner Spital brachte. Nach Aussage des dortigen Arztes wäre eine halbe Stunde später jede Hilfe umsonst gewesen. Uneingeschränktes Lob und Dank gebührt unserer Spitaler Ärztin und den BRD Männern, die derart rasch und einsatzbereit den Dienst am Nächsten üben und alles daran setzen, um in Gefahr
befindliches Menschenleben zu retten."
Die Ärztin, meine Mutter errang durch solche Einsätze einiges Ansehen bei den Männern der Bergrettung. Ich war stets stolz auf meine Mutter wegen solcher Einsätze.
Der Arzt und die Ärztin entwickelten im Laufe der Zeit einen guten Blick für Verletzungen oder für den körperlichen Zustand der Verunglückten.
Ihre Erfahrung war groß, auch ohne komplizierte Geräte.
Einmal meinte meine Mutter, die Ärztin, sogar: „Wenn die jungen Ärzte heute keine Apparate, Geräte und Maschinen hätten, wären sie gänzlich hilflos."
Die Rettungsaktionen früher hatten, wahrscheinlich mehr als heute, etwas von Abenteuern an sich. Heute besteht kaum mehr ein Problem, wenn jemand als Schifahrer oder als Bergwanderer sich verletzt, ihn schnell mit einem Hubschrauber zur ärztlichen Behandlung in ein Krankenhaus zu fliegen. Damals in den fünfziger Jahren jedoch gab es solche Möglichkeiten noch nicht, daher hatten Ärzte und Bergrettungsleute Großes zu leisten und auch Abenteuer zu bestehen, wie der Marsch zu einer Berghütte, in der ein Verletzter oder eine Verletzte auf Behandlung wartete.
Anfang der 1960er Jahre werden bisweilen auch Hubschrauber bei der Bergrettung eingesetzt. Damals ist es meine Mutter, die sich wagemutig von einem Hubschrauber zu einem Verletzten auf die Wurzeralm bringen lässt.
Meine Mutter war um 1948 bereits eine tüchtige Motorradfahrerin und später eine ebenso geschickte Autofahrerin, die genauso wie mein Vater auch im Schnee es verstand, auf engen Bauernstraßen gut weiter zu kommen.
Der Kontakt zu den Bergrettungsleuten war damals von Seiten des Arztes und der Ärztin ein herzlicher und enger. Sie alle gehörten zum Leben im Dorf.
Der Ruf der Bergrettungsmänner war ein guter. Sie liebten es, Heiteres von sich zu geben. So machten sie mit den auf Rettung hoffenden Opfern mitunter harmlose Scherze, die eine durchaus entlastende Funktion hatten.
Daher meinte ein Bergrettungsmann im Gespräch mit mir: "Speziell, wenn es wild zugegangen ist, wurde viel geblödelt. Ein paar Goscherte (Großredner) sind immer dabei. Man reagiert sich so ab. Das Unangenehme wird verdrängt. Dabei wurden wilde Sprüche von sich gegeben“ und man erfreute sich am Witz.
Die alten Rettungsleute, dies sei abschließend festgehalten, gehörten einer alten Kultur an, in der es oft sehr schwierig war, Verletzte zu bergen und zu Tal zu bringen.
Darüber sollte hier erzählt werden - in Erinnerung an die Einsätze früherer Bergrettungsleute und der alten Landärzte, aber auch der Landärztin.