An der Universität München

Selbstverständlich bin ich Herrn Professor Dr. Horst Jürgen Helle dankbar, dass ich in München bei ihm zwei Jahre – von 1973 bis 1975 - lang Assistent sein durfte. Die ersten Jahre in Wien und die beiden in München waren für mich Jahre, in denen ich allmählich eine tiefe Beziehung zu den Kultur- und Sozialwissenschaften aufbauen konnte, die für mein weiteres akademisches Leben wichtig war.

 

Herr Professor Helle hatte wenig Zeit, sich mit mir abzugeben bzw. mit mir auf ein Bier zu gehen, er hatte viel mit seinen Familiengeschichten zu tun. Von seiner Frau, mit der er drei oder vier Kinder hatte, ließ er sich scheiden. Seine Ehe wurde, da er ein sehr guter Katholik war, von kirchlicher Seite aus geschieden bzw. annulliert. Er heiratete gleich darauf eine Theologin, von der er sich später auch scheiden ließ, um eine chinesische intellektuelle Dame zu heiraten. Herr Professor Helle wurde zum Ehespezialisten. Als solcher schrieb er ein katholisches Buch über die Ehe.

Darauf sah ich mich veranlasst, in einem im Verlag Herder erschienenen Sammelband einen spannenden Artikel mit dem kühnen Titel „Die große Liebe und die lange Ehe“ zu verfassen.

 

Immerhin sei Helle gedankt, da er mich zu diesen Gedanken zur Ehe indirekt anstiftete. Diese Arbeit imponiert ihm nicht, er ignorierte sie. Das einzige, was ihm an mir imponierte, war, dass ich ihm auf der Autofahrt von Wien nach München über den oberösterreichischen Bauernkrieg von 1626 erzählte, dass dieser mit blutiger Gewalt von den Bayern niedergeschlagen wurde. Ich wollte ihm damit klar machen, dass man als Österreicher vorsichtig gegenüber den Bayern zu sein habe.

 

Jedenfalls übersiedelte ich mit meiner Familie nach München. Meine Frau erhielt im Münchner Bezirk Sendling, in dem wir wohnten, eine Stelle als Lehrerin, meine Kinder gingen dort zur Schule. Es war eine schöne Zeit, die wir in München verbrachten.

Ich habe an der Universität München viele Freunde gewonnen, wie :

 

  • Siegfried Lamnek , der später ein beachtetes Buch über qualitative Sozialforschung schrieb, Professor an der Universität Eichstätt wurde und sich dafür einsetzte, dass ich um 1985 an dieser Universität für ein Semester eine Gastprofessur erhielt. Ich hielt dort ein Seminar über Randkulturen, zu dem ich auch einmal von Wien aus mit dem Fahrrad fuhr.
  • Dirk Käsler, Spezialist für die Schriften Max Webers, er lud mich zu Vorträgen über Randkulturen und Polizisten an die Universität Hamburg ein, wohin er als Professor berufen wurde. Er ärgerte sich zu recht über mich, weil ich in meiner kleinen Schrift über Max Weber in Wien nicht exakt das Wirtshaus beschrieben habe, in dem Max Weber gerne sein Bier trank.
  • Professor Bolte und seine liebe Frau Wibke, die ich beide sehr geschätzt habe, sind schon in der Ewigkeit angekommen. Mit Frau Bolte hatte ich einen regen Briefwechsel, sie war eine wunderbare Frau, sie war eine der interessantesten Frauen, die ich in meinem Leben kennen lernen durfte.
  • Prof. Dr. Sepp Schmid, der ebenso wie ich in Kremsmünster maturiert hat und auch bei einer farbenstudentischen Verbindung gewesen ist.
  • Dr. Walter Kiefl, der ein paar schöne Arbeiten über Nacktbaden schrieb – er verdiente sich sein Geld nach seiner Promotion als Bademeister. Unter einem Pseudonym verfasste er – er tut es wahrscheinlich heute noch - höchst erotische Bücher. Er war und ist mir ein lieber Freund.

 

Durch Professor Helle wurde ich Mitglied der hochachtbaren Görres-Gesellschaft. Das ist eine der ältesten deutschen Wissenschaftsgesellschaften. Aufgabe der Gesellschaft ist die „Bewahrung ihres im katholischen Glauben wurzelnden Gründungsauftrages, wissenschaftliches Leben auf den verschiedenen Fachgebieten anzuregen und zu fördern und die Gelegenheit zum interdisziplinären Austausch zu bieten“.

 

Ich nahm an ein paar Tagungen teil, bei denen ich interessante Leute kennen lernte, so den Präsidenten dieser Gesellschaft Professor Dr. Paul Mikat, der mir ob seines Witzes sympathisch war. Es gefiel mir, dass er der uneheliche Sohn einer Ärztin und eines römischen Priesters war.

 

Bei der Tagung in Paderborn, ich glaube, diese war 1974, suchte ich den dort in Ruhestand lebenden Bischof Friedrich Maria Rintelen, einen fernen Verwandten meiner Frau (auch sie ist eine Rintelen), auf. Ich stellte mich vor. Er bot mir sofort das Du-Wort an und lud mich für den nächsten Tag am Abend zu einem Glas Wein ein. Ich erschien, auch waren neben mir ein Kollege und der bekannte Erzbischof Degenhart, ein freundlicher und weitherziger Herr, eingeladen. Es war ein schöner Abend. Rintelen, der Farbenstudent war, er war Mitglied einer CV-Verbindung, zitierte während des Abends bei einem Glas Wein einen Brief Bismarcks, auch dieser war Farbenstudent, allerdings bei einem schlagenden Corps. Dieser Brief passte in die Stimmung des Abends, ich habe mir dessen Wortlaut ungefähr gemerkt. Diesen Brief hatte er geschrieben, nachdem er die Universität Göttingen aus disziplinären Gründen verlassen hatte und auf sein Rittergut in Pommern zurückgekehrt war. Es heißt da ungefähr:

"Ich genieße hier hohes Ansehen, weil ich Geschriebenes mit Leichtigkeit lesen kann, einen Hirsch mit der Akkurates eines Metzgers zerlege, dreist reite, schwere Zigarren rauche und mit höflicher Kaltblütigkeit meine Gäste unter den Tisch trinke".

Mir imponierte, dass Bischof Rintelen, der vor seiner Emeritierung Bischof in Magdeburg war, gerade diese heiteren Worte Bismarcks auswendig wusste. Denke gerne an diese fröhliche Stunde im erzbischöflichen Palais von Paderborn, die ich gemeinsam mit einem Bischof und einem Erzbischof verbracht habe.

 

Über meine Tätigkeit an der Universität München lernte ich Wolfgang Lipp kennen. Durch ihn kam ich in Kontakt mit interessanten Kultursoziologen, denen ich mich von meinen Studien her verbunden fühlte. Wolfgang Lipp, später Professor an der Universität Würzburg, war der Gründer der Sektion Kultursoziologie in der deutschen Gesellschaft für Soziologie, er wurde mir ein sehr lieber Freund, durch den ich weitere ehrbare Soziologen kennen gelernt habe. Sein Buch „Stigma und Charisma“ ist ein höchst wertvolles kultursoziologisches Buch, das ich meinen Studenten, vor allem jenen, die sich mit Randgruppen beschäftigen, zur Lektüre empfehle.

 

Wolfgang Lipp stammte aus Linz und wohnte während der Sommermonate in Altaussee in einem schönen Haus, das sein Vater, ein berühmter Volkskundler, erworben hatte. Mit der Familie Lipp bin ich bis heute in guter Freundschaft verbunden.

Für meine Laufbahn als Kultursoziologe und Kulturanthropologe verdanke ich Wolfgang Lipp sehr viel. Er lud mich zu kultursoziologischen Tagungen ein, die u.a. in Bielefeld aber auch am Starhemberger See stattfanden. Zu dem Treffen am Starhemberger See, es war um 1985, war ich von Wien aus mit dem Fahrrad angereist. Ich hielt dort einen Vortrag über Aristokraten und andere feinen Leuten. Bei Kongressen der deutschen Gesellschaft für Soziologie hatte ich im Rahmen der Kultursoziologie die Ehre, aus meinen Forschungen z. B. zum Thema Grenzen zu erzählen. Dabei amüsierte ich – es war bei dem Kongress in Düsseldorf 1994 die Kollegenschaft durch eine Geschichte, die meiner Tochter in den letzten DDR-Tagen passiert ist. Sie war über meine Beziehung zu dem DDR- Professor Heinz Grünert von diesem vor dem Mauerfall nach Ostberlin eingeladen worden. Als sie am Ende ihres Aufenthaltes in Ostberlin über den Checkpoint Charly nach Westberlin ging, grüßte sie den DDR-Grenzsoldaten mit „Grüß Gott“. Dieser meinte darauf: „Daran werden wir uns bald gewöhnen müssen“.

 

Mit Wolfgang Lipp und unserem Freund Hartmann Tyrell, Soziologe an der Universität Bielefeld, unternahm ich mit meiner Frau und meinen beiden Kindern, um 1978 eine großartige Wanderung über das Tote Gebirge von Hinterstoder zum Grundlsee.

Im Jahr darauf wanderten wir vom Almsee über das Tote Gebirge nach Altaussee. Ich habe schöne Erinnerung an diese „soziologischen“ Touren, bei denen wir uns wohl auch in kultursoziologische Themen vertieften, wie in das der alten rebellischen Kultur der Wildschützen. Wolfgang Lipp, dem ich viel verdanke, starb leider an einer heimtückischen Krankheit 2014. Bei seinem Begräbnis am Waldfriedhof von Würzburg hielt ich auf Wunsch der Söhne von Wolfgang eine Trauerrede, bei der ich betonte, wie wichtig mir die Kultursoziologie geworden ist. Mit Wolfgang Lipps Söhnen Thorolf, der es zu einem tüchtigen Ethnologen und Dokumentarfilmer brachte, und Julius, einem Chemiker, verbindet mich eine schöne Freundschaft. Thorolf hat übrigens mit seiner charmanten Frau Gemahlin ein schönes, kultursoziologisch spannendes Buch über eine Seefahrt verfasst.

 

Ein sonderbares Erlebnis hatte ich 2011, als ich Wolfgang, er lag damals bereits in einem Würzburger Pflegeheim, er konnte sich kaum noch bewegen, mit dem Zug besuchte. Ich war in Linz in diesen eingestiegen. Ich zeigte dem Schaffner meine ermäßigte Fahrkarte und meinen Seniorenausweis. Er schaute sich diese an, nahm sie an sich und meinte, ich hätte Betretungsverbot der österreichischen Bundesbahnen. Ich sagte darauf diesem Herrn meine Meinung und rief meine Cousine an, die einmal Generalsekretärin der Österreichischen Bundesbahn gewesen ist. Diese veranlasste das Nötige. Auf diese Weise konnte verhindert werden, dass ich den Zug verlassen musste. Ich schrieb darauf der Generaldirektion der österreichischen Bundesbahn einen entsprechenden Brief. Der damalige Generaldirektor der Bundesbahn beantwortete ihn selber. Er entschuldigte sich in dem Brief und meinte, es habe sich dabei um eine Namensverwechslung gehandelt. Außerdem schrieb er mir sinngemäß, er sei einmal mein Schüler gewesen.

 

Der Generaldirektor unterschrieb selbst, es war dies Christian Kern, der spätere Bundeskanzler. So verdanke ich indirekt meinem Freund Wolfgang Lipp einen schönen Brief von Christian Kern, der damals noch Generaldirektor der ÖBB war, ehe er Bundeskanzler unserer Republik wurde. Dies ist sein Brief: 

Durch Wolfgang Lipp lernte ich Horst Baier kennen. Diesen schätze ich sehr, er wurde mir ein geradezu väterlicher Freund, ihm verdanke ich, dass mein Buch über die Wiener Sandler in einer angesehenen sozialwissenschaftlichen Reihe erscheinen konnte. Horst Baier, aus Brünn stammend, ist promovierter Arzt und war Professor für Soziologie an der Universität Konstanz, sein weiter Geist und seine profunde Bildung imponierten mir sehr.

 

Horst Baier ist Mitherausgeber der Werke Max Webers. Er gehörte zu jenen Herren, die zu Wolfgang Lipps Lebzeiten, kultursoziologische Treffen des sogenannten „Wolfgang Lipp - Kreises“ veranstaltete. Eines dieser Treffen fand in Bielefeld statt, es hatte Hartmann Tyrell mit seiner lieben Frau Monika organisiert. Ein anderes fand auf der Klosterinsel Reichenau im Bodensee statt. Wolfgang Lipp war bei diesem mit seiner wunderbaren Frau Maria, die viel für ihn getan hat, erschienen. Ihrer erinnere ich mich mit Hochachtung.

 

Zu jenen großartigen Kultursoziologen, die ich durch Wolfgang Lipp kennen lernen durfte, gehören auch Justin Stagl, Bernhard Schäfers, Ronald Hitzler und seine liebenswürdige, leider schon verstorbene Frau Anne Hohner, Arnold Zingerle, der ein schönes Buch über Ehre, an dem auch ich mit einem Aufsatz mitgewirkt habe, herausgegeben hat, Hubert Knoblauch, der in der „Soziologischen Revue“ einen schönen Aufsatz über mich geschrieben hat und sich bei mir bedankt, dass ich die Ethnographie in die Soziologie „eingeführt“ habe, und einige Damen und Herren mehr.

 

Ihnen allen fühle ich mich sehr verbunden. Das Institut für Soziologie in München in der Konradstraße war sehr fruchtbar für mich. Während dieser Zeit hielt ich Proseminare und ähnliche Lehrveranstaltung ab. Mit den Studenten hatte ich einen guten Kontakt, bisweilen besuchte ich mit ihnen diverse Biergärten. Die Biergärten in München hatten es mir angetan.

 

Ich schrieb damals eine Art Lehrbuch zur „Rechtssoziologie“, welches in dem Münchner Fink- Verlag erschien. Aber ich begann damals auch an meinem Einführungsbuch in die „Kulturanthropologie“ zu schreiben, welches schließlich im DTV-Verlag das Licht der wissenschaftlichen Welt erblicken konnte.

Auch ansonsten erlebten meine Frau und meine beiden Kinder schöne Stunden in München. Wir nahmen am Oktoberfest teil und freuten uns mit den Deutschen, als diese 1974 Fußballweltmeister wurden.

 

Mit Herrn Professor Helle hatte ich leider keinen besonders engen Kontakt, er war auch nicht sehr interessiert an einem solchen. Helle war ein katholischer Hamburger – eine Rarität - , als solcher war er ein wunderbarer, geradezu salbungsvoller Redner. Professor Helle als Vertreter der „verstehenden Soziologie“ im Sinne Max Webers und des „symbolischen Interaktionismus“ (dies klingt geheimnisvoller als es ist) bot immerhin wissenschaftstheoretische Gedanken an, die die von mir vertretenen Methoden der teilnehmenden Beobachtung und des „freien“ Gesprächs rechtfertigen. Professor Helle war ein Meister im intellektuellen „Diskurs“, wie er typisch war für die 1970er Jahre, mit dem ich jedoch nicht viel anfangen konnte. Überhaupt war diese Zeit bestimmt durch schöne Worte, die sich an Leuten wie Habermas, Adorno u.a. Spezialisten ausrichteten, die aber nicht viel aussagten. Die manchmal sehr komplizierte und z.T. unverständliche Sprache der Soziologen u.a. Wissenschaften war für mich stets ein Problem. Ich versuchte, mich stets für eine klare Sprache einzusetzen.

 

Von einer ganz anderen Art war der große Kölner Soziologe Rene König, mit dem ich später durch meinen Freund Hans Benninghaus in Kontakt kam. Ihm werde ich ein eigenes Kapitel widmen. Ich war froh, mit meiner Familie im Sommer 1975 wieder nach Wien übersiedeln zu können.

Eigentlich bin ich in München trotz der vielen Biergärten und des Hofbräuhauses zum überzeugten Wiener geworden.