Ende der 1970er Jahre machte ich mich daran, das Leben der so genannten Sandler, wie man für gewöhnlich in Wien die obdachlosen Nichtsesshaften bezeichnet, die auf der Straße leben und in Abbruchhäusern, unter Brücken, im Prater oder sonst wo zu nächtigen pflegen, zu erforschen.
Als Resultat meiner Forschung bei Wiener Sandlern erschien 1980 im renommierten Enke-Verlag in Stuttgart das Buch „Vagabunden in der Großstadt – Teilnehmende Beobachtung in der Lebenswelt der Sandler Wiens“. Das Buch erschien in der Schriftenreihe „Soziologische Gegenwartsfragen“, welche u.a. von Prof. Horst Baier aus Konstanz und Prof. Leopold Rosenmaier aus Wien herausgegeben wurde. In meinem Buch „Randkulturen – Theorie der Unanständigkeit“ widme ich aufbauend auf dieser Schrift ein Kapitel den Sandlern.
Wenn ich im Folgenden das Wort „Sandler“ oder auch „Stadtstreicher“ verwende, so ist dies keineswegs abwertend gemeint. Ich finde „Sandler“ ein schönes Wort, zumindest schöner als „obdachloser Nichtsesshafter“, denn das Wort Sandler hat Geschichte, wie noch zu sehen sein wird.
Sandler oder Stadtstreicher sind hauptsächlich Männer, die aus Resignation oder persönlichen Schwierigkeiten, wie Gefängnisaufenthalten, Schulden, Alimentationsverpflichtungen oder familiären Konflikten, Kontakte zu Leuten suchen, die ähnliche Probleme haben. Stadtstreicher tragen das Stigma des Ausgestoßenen und suchen in der Anonymität der Großstadt Schutz vor sozialer
Kontrolle .Hier finden sie Kontakte zu Menschen mit einem ähnlichen Schicksal.
Die Großstadt bietet ihnen jene soziale Freiheit, die das Dorf nicht bieten kann.
Grundsätzlich ist die Karriere des Sandlers bestimmt durch einen Prozess doppelten Versagens. Er ist ein Gescheiterter in der "normalen" Welt, aber oft auch ein Gescheiterter in der Kriminalität.
Charakteristisch für die Kultur der Stadtstreicher, wie ich aufzeige, ist eine mehr oder weniger noble Distanz zur körperlichen Arbeit. Dies ist auch der Grund, warum Sandler bzw. Stadtstreicher als unangenehm, gefährlich o. ä. gesehen werden. Eine solche Einstellung gegenüber dem Stadtstreicher entspricht unserer durch den Protestantismus bzw. Calvinismus geprägten Gesamtkultur, die den Menschen an der Arbeit misst. Im Gegensatz zum katholischen Mittelalter, in dem herumziehende Bettler und andere Vagabunden durchaus akzeptiert waren.
Genauso wie es einen König von Gottes Gnaden gab, gab es einen
Bettler oder eine Dirne von Gottes Gnaden. Ganz im Sinne der Bibel, in der Christus als ein vagabundierender und mit seinen Jüngern zechender, sie von der Arbeit abhaltender Gottessohn geschildert wird. Christus schützte das fahrende Volk
und die kleinen Ganoven. Dies drückt sich in dem Satz im Matthäus Evangelium aus, den Jesus den Pharisäern zurief: „Die Zöllner und die Dirnen kommen vor Euch in das Himmelreich Gottes". (Darauf gehe ich näher in meinem Buch „Rotwelsch“ ein).
Das Wort Sandler, woanders spricht man vom Penner oder vom Pennbruder, kommt nach der landläufigen Vorstellung von der Ziegelherstellung. Derjenige, der den Sand für den Ziegelmodel reichte, nannte man Sandler. Er war derjenige, der am wenigsten zu tun hatte. Eine andere Erklärung geht auf jene Arbeiter zurück, die am Wiener Donauufer Schwemmsand gewannen. Tatsächlich jedoch dürfte das Wort Sandler auf das mittelhochdeutsche Wort „seinde“ für „langsam“ oder „träge“ zurückgehen. Dies meine nicht nur ich, sondern auch der Historiker Prof. Roman Sandgruber, der von seinem Namen her eine besondere Beziehung zum „Sandler“ haben dürfte.
Als Ausgangspunkt meiner Forschung erschien mir das Restaurant im alten Wiener Westbahnhof mit der Stehbierhalle als günstig. In dieser Stehbierhalle hielten sich gerade während der kalten Jahreszeit Obdachlose auf. Einer von ihnen war Ernstl U., der sich wegen seines Kappls, das er stets trug, Charly Kappl nannte und so ebenso von seinen Kumpanen genannt wurde. Auch ich sprach ihn so an. Er wurde mir ein guter Begleiter in der Welt der Sandler bzw. Obdachlosen. Ihn brachte ich einmal gemeinsam mit meiner Tochter Heidrun ins Krankenhaus wegen seiner Geschwüre am Bein. Da die Ärzte meinten, er wäre ein Alkoholiker, verlegte man ihn in die geschlossene Abteilung für gefährliche Alkoholiker in Lainz. Er verstand es jedoch durch seinen Witz und seine Schläue bald wieder entlassen zu werden.
Am Westbahnhof freundete ich mich nicht nur mit Charly Kappl, sondern auch mit anderen Herren der Straße. Ich erzählte ihnen, dass ich über ihr Leben forschen wolle. Den Herren gefiel meine Absicht und sie halfen mir so gut es ging. Einmal schützten sie mich sogar vor einem Gewalttäter, der dahinter gekommen war, dass ich kein echter Sandler sei, sondern ein „Studierter“. Daher wollte er mir einen Bierkrug auf den Kopf hauen. Die mir freundlich gesinnten Sandler besänftigten ihn und meinten, ich sei ein „klasser Bursch“ und würde sie sogar hier und da auf ein Bier einladen. Während meiner Beobachtungen machte ich mir auf einem Zettel, wenn ich unbeobachtet war, ein paar Notizen. Auf Grund dieser verfasste ich möglichst bald, auch wenn ich in der Nacht müde daheim ankam, meine Beobachtungs- bzw. Gesprächsprotokolle.
Auf dieses spannende Thema gehe ich in der Einleitung des Buches ein.
Ich tue dies vor allem im Hinblick auf die Lebenssituation der Sandler:
Damit der geneigte Leser bzw. die geneigte Leserin sich ein Bild von meiner Forschungsarbeit bei den Sandlern machen kann, gebe ich hier die Inhaltsangabe des Buches wieder:
In den Erzählungen Ernstls, der 1926 zur Welt kam, zeigt sich der frühe Bezug zum Alkohol, seine Freude an Lausbübereien. Ernstl entwickelt schon sehr früh Tricks des Überlebens in einer Zeit als es den Menschen schlecht ging. Das neue Regime wird daher zunächst begrüßt, man erhofft sich wirtschaftlichen Aufschwung. Wenig Freude hat Ernstl mit dem Militärdienst. Er entflieht immer seiner Truppe, wird gefangen und lernt die Gefängnisse kennen. In der Nachkriegszeit wird Ernstl in Rottenmann Fußballer, er dürfte ganz gut gespielt haben, aber der Alkohol lässt ihn nicht los, Er macht ein paar „Blödsinn“, er wird zum Vagabunden und zum Kleinkriminellen. Die Gefängnisaufenthalte nutzt er zum Lesen historischer Werke. Ich wunderte mich bei meinen Gesprächen mit ihm über seine Geschichtskenntnisse. Irgendwann landet er am Westbahnhof und lernt dort andere Sandler kennen, mit denen er sich gut zu verstehen scheint.
Die Karriere Ernstls, die er vor mir ausbreitete, ist spannend, aber auch humorvoll.
Ich will die betreffenden Seiten aus meinem Buch hier wiedergeben.
Mit den Sandlern ist eine alte Kultur verbunden, dies zeigt sich darin, dass sie eine alte Sprache sprechen.
Als ich einen Stadtstreicher, also einen Wiener Sandler, einmal fragte, was er
am Nachmittag zu tun gedenke, antwortete er mir, er wolle jemandem die "Rippe eindrücken". Ich erschrak und fragte, was dies bedeute. Nun erklärte er mir, er habe die Absicht, freundliche Menschen zu bitten, ihm etwas Geld für ein Bier zu geben. Die "Rippe eindrucken" heißt also so viel wie "betteln", schloss ich, ich konnte aber zunächst keine Beziehung zwischen "Rippe" und "betteln" herstellen. Ich stand vor einem Rätsel.
Dieses löste sich, als ich im "Liber Vagatorum", dem um 1500 erschienenen, wahrscheinlich von einem Kriminalbeamten herausgegebenen Buch nachforschte. In diesem "Liber Vagatorum" ist neben den diversen Gauner- und Bettlertricks auch ein Vokabular der Gaunersprache zu finden. Und in diesem las ich, dass das Wort "ripar" so viel wie "Seckel", also Geldtasche", bedeute. (Darüber ist näheres aus meinem Buch „Rotwelsch“ zu erfahren).
Beispielhaft seien einige Wörter aus der Sandler – und Gaunersprache, wie ich sie mit Wiener Ganoven und Sandlern (Pennern) mir erarbeitet habe, angeführt:
Sandler- und Gaunersprache | Übersetzung |
Kimmler (rotw. Kimme=Laus), Wapler, Pestitschek | schlechter Mensch |
Stranzenstat sein (Stranze = Bett; mhd. stade = ohne) | obdachlos sein |
Fuchsene Schah (Fuchs = Gold) | goldene Uhr |
Bockvalat sein (Bock von Bockleder = Schuhe) | keine Schuhe besitzen |
Brasetl (franz.) | Armband |
Fleck, Ziehharmonika | Brieftasche |
Ponem (jidd. Ponim) | Gesicht |
Pausen | schlafen |
Jemandem den Hahn geben |
jemandem den Laufpass geben |
Fackeln |
schreiben |
Ausgefackelt sein |
im Fahndungsbuch ausgeschrieben sein |
Bär, Jogl, Janker, Fuchsener |
Geldschrank |
Puffer, Puffn, Kanone, Bleispritzen, Krachn |
Revolver, Pistole |
Fisch, Trawanker, Feitl, Nusch, Man |
Messer |
Chilfern (jidd.chillef=Geldwechsel) |
beim Geldwechsel betrügen |
Eindibler, Hackngeher, Schrangler |
Einbrecher |
Wams, Verwamser, Kniera |
Verräter |
Heh, die Gschmierten, die Schmier, Kiberer(mhd.kibern=schimpfen) |
Polizei |
Klavier spielen |
Fingerabdrücke abnehmen |
Mlli gehn, maier gehn, müllisieren, quitsch gehn |
verhaftet werden |
Einen Holzpyjama angemessen bekommen, in die Kisten hupfen, des Teufels erster Heizer werden, umistehn, die Lackböck angemessen bekommen |
sterben |
(Näheres dazu in meinen Büchern: Vagabunden der Großstadt , Randkulturen und „Rotwelsch“).
Durch meine Forschungen bei Sandlern lernte ich einige interessante Herren kennen, mit denen ich noch jahrelang nach Erscheinen meines Buches Kontakte hatte, so mit Johannes Laa. Er stammte aus Graz. Er erzählte mir, er sei ein uneheliches Kind und habe sogar Matura, was mir durchaus glaubwürdig erschien. Seine Mutter kümmerte sich zwar um ihn, aber Johannes geriet bald in Gruppen, in denen es wild zuzugehen schien und in denen man dem Alkohol zusprach. Auch er landete ihn Wien, wo er weiterhin ein „lustiges Leben“ führte. Ich glaube, durch Pepi Taschner, über den ich noch erzählen werde, kam ich mit Johannes in Kontakt. Er suchte mich sogar am Institut für Soziologie auf, was mir nicht immer angenehm war.
Bei einem dieser Besuch am Institut „borgte“ sich Johannes Laa ohne mich zu fragen, mein Fahrrad, das ich im Parterre des Institutes abgestellt hatte. Ich habe es nie wieder gesehen. Er hinterließ einen Zettel, den er mit „Justizminister“ unterschrieb, dies darum, weil er einmal bei einer Gerichtsverhandlung der Richterin ein Strafgesetzbesuch gestohlen hatte und dieses auch stets bei sich führte, um seine Kumpanen juristisch beraten zu können.
Bisweilen hatte Johannes wegen Raufereien, kleinen Diebstählen u. ä. mit den Gerichten zu tun. Als er wieder einmal im Gefängnis einsaß, erhielt ich diesen Brief von ihm:
Ich schickte ihm die 500 Schilling. Hier der Aufgabeschein.
Darauf erhielt ich dieses Dankschreiben von Johanns Laaa, das er mit der Bitte um weitere 500 Schilling verbindet. Er bittet mich auch, bei seiner Verhandlung dabei zu sein.
An der Gerichtsverhandlung, über die Hans Laa in seinem Brief erzählt, nahm ich teil. Die Verhandlung spielte sich vor einem Schöffengericht ab. Ich war der einzige Zuhörer. Johannes Laa wurde mit Handschellen von einem Beamten vorgeführt. Wie er in den Gerichtssaal kommt, sieht er mich und ruft mir zu: „Servus Roland“.
Der Richter schaut verwundert. Dies veranlasste den Richter, der mich nicht kannte, zu fragen, ob ich vielleicht ein Verwandter von Laa sei. Ich verneinte. Laa wird kurz in den Nebenraum geführt. Nun erscheint eine Zeugin, die nicht in seiner Gegenwart aussagen wollte. Sie erzählt, sie sei von Johannes sexuell belästigt worden, denn er habe ihre Brust fest berührt. Die Dame wird in den Nebenraum gebeten. Nun wird Laa wieder herein gebracht und ihm die Aussage der Frau vorgehalten. Der Richter meinte: „Nach Aussagen der Frau hätten Sie sich 30 Sekunden in ihre linke Brust verbissen. Was sagen Sie dazu?“ Johanns Laa behauptete nun, dass er die Brust der älteren Dame gar nicht berührt haben konnte, denn er habe in der einen Hand eine Bierflasche und in der anderen einen Regenschirm gehalten. Es war ihm demnach unmöglich, die Dame sexuell belästigt zu haben.
Der Richter und die Beisitzer sahen dies ein, sprachen ihn in dieser Sache frei und bestraften ihn jedoch wegen böse Sachbeschädigung und kleinem Diebstahl zu einer eher kurzen Strafe.
Über diese Gerichtsverhandlung verfasste ich dieses Protokoll:
Interessant ist ein Polizeibericht über eine sonderbare Aktivität von Johannes Laa, er zeigt dessen Einfallsreichtum, um wahrgenommen zu werden. Die Kopie der Polizeimeldung ließ mir Johann Laa zukommen. Es heißt in dieser „Meldung“ u.a.:
„Am 15.3. 1989, um 07. 35 Uhr kam ein unbekannter Passant ins hiesige Wz (Wachzimmer) und teilte uns mit, dass sich in der Bahnhofshalle ein Alkoholisierter befindet, welcher aus dem Hosenschlitz eine Extrawurst hängen hat. Daraufhin begab (!) ich mich mit Inspektor MÜLLER Andreas in die Bahnhofshalle, wo wir
LAA Johannes Anton, o.B., 10.12.1948 Regensburg /BRD geb. österr. Staatsbürger, ledig, ohne Unterstand
Eltern: Mutter: Johanna. Vater: unbekannt
antrafen.
Um eine DASTA-Anfrage durchzuführen, begaben wir uns mit LAA in das hs. Wz.
Die DASTA-Anfrage ergab, dass gegen LAA eine Aufenthaltsermittlung für Gericht als Beschuldigter wegen Vergehens aus o.a. Gründen besteht. LAA wurde mitgeteilt, dass er sich ehebaldigst im BG. Wien einzufinden habe. Weiters wurde mit LAA eine Niederschrift aufgenommen"
Hier ist die z.T. schwer lesbare Kopie der „Meldung“:
Auch mit einem anderen Sandler hatte ich einen guten Kontakt, es war dies
Karl Ullmann, auch ihn hatte ich am Westbahnhof kennen gelernt. Er besuchte mich oft am Institut. Ich lernte viel durch ihn was das Leben der Sandler anbelangt. Ihn ließ ich auch das Manuskript meiner Sandler-Studie lesen. Er meinte 95 Prozent meiner Arbeit sei in Ordnung. Über diese Feststellung freute ich mich sehr. (Ein anderer Sandler, Charly Kappl, meinte, dass bis auf die Rechtschreibfehler alles in der Arbeit in Ordnung sei).
Karl Ullmann, wie die folgende Geschichte zeigt, wurde durch eine Gaunerei zum “Firmenchef“. Als solcher lebte er in der Wiener Meldemannstraße, dem früheren Männerheim, dessen berühmtester Insasse Adolf Hitler gewesen ist, wie Sandler mir gegenüber oft mit Stolz erzählten.
Die Arbeiter der Firma, zu deren „Chef“ Karl Ullmann durch Gauner gemacht worden war, sahen sich hineingelegt und suchten ihren „Firmenchef“ auf. Diesen trafen sie volltrunken im Männerheim in der Meldemannstraße an.
Dies erzählt diese Zeitungsgeschichte von 1983
Dieser Bericht der Zeitung „Die Zeit“ bezieht sich auf eine Künstlerin, die unter Obdachlosen in Hamburg forschte. Sie ist interessant wegen ihrer Methode, dem freien Gespräch.
Wichtig ist, dass man als Forscher in Ordnung ist, dann erfährt man ohne Scheu viel. Die Autorin hatte es geschafft, als Zeichnerin einen guten Zugang zu Obdachlosen gefunden zu haben.
Zu den Überlebensstrategien von Sandlern gehört auch, hin und wieder mit Tricks in einem Krankenhaus aufgenommen zu werden, um zumindest ein paar Tage ein schönes Leben zu führen, wie dieser Sandler, über den dieser Zeitungsartikel von 1980 handelt:
– zum Erstaunen des Lateinprofessors Dr. Tacitus bei seinem Besuch der Gruft:
In Wien sprachen Sandler vom „Hotel Waggon“, wenn sie in abgestellten Eisenbahnwaggons in kalten Winternächten schliefen, und vom „Hotel Abbruch“, wenn sie in einem Abbruchhaus Quartier bezogen.
Folgender Bericht eines tüchtigen Journalisten aus Salzburg deckt sich im Wesentlichen mit meinen Erkundungen.
Zu meinem Buch erhielt ich schließlich einen netten Brief von Herrn Dr. Voss von der Kammer für Arbeiter und Angestellte, der Gefallen an meiner Arbeit auch hinsichtlich der Methode gefunden hat: Dieser Brief, über den ich mich sehr freute, sei hier in aller Bescheidenheit wieder gegeben.
(u.a. über meine Sandler-Studie) im Reformierten Kirchenblatt. Wien März 1992
Es war im Jahre 2011 an einem kalten Februartag, da fanden Passanten in Wien am Spittelberg im 7. Bezirk Wiens einen erfrorenen Stadtstreicher bzw. Sandler auf. Zuerst dachte man sich, bei diesem würde es sich um einen „gewöhnlichen“ Sandler handeln, der alkoholisiert hier eigeschlafen und erfrorenen ist. Es stellte sich jedoch heraus, dass es sich bei diesem Mann um einen gewissen Werne Kohlmaier handelte.
Ich kannte diesen Mann gut, er war ein Jahr jünger als ich und hatte eine Zeit an der Hochschule für Bodenkultur, heute ist dies eine Universität, studiert. Werne kam aus einer guten Familie, sein Vater war ein angesehener Diplomingenieur und seine beiden Geschwister, er hatte eine Schwester und einen Bruder, waren gute Bürger. Der Bruder trat immerhin im Staatsopernchor auf. Ein Cousin von ihm war ein bekannter und fleißiger Nationalratsabgeordneter der ÖVP.
Werner jedoch zeigte keine Absichten, ein „guter Bürger“ zu werden. Er lebte in den Tag hinein. Das Studium interessierte ihn nicht sehr, er macht sich sogar lustig über seine Hochschule, die er in heiterem Kreis als „Kochschule für Hodenkultur“ bezeichnete. Er soll sogar sein Maturazeugnis jemandem verkauft haben, der an einer Universität inskribieren wollte. Ob dieser einen Erfolg damit hatte, weiß ich nicht, Werner lebte von Studentenjobs und Gelegenheitsarbeiten. Durch ihn kam ich zu einigen spannenden Tätigkeiten, zu denen Einwickeln von Schokoladeosterhasen mit Stanniolpapier gehörte ebenso wie das Reparieren von Einkaufsnetzen, die schadhaft aus China geliefert wurden. Ich saß damals mit anderen Studentinnen und Studenten, die sich etwas Geld verdienen wollten, in einem großen Raum, um diese Netze zu kontrollieren. Dabei unterhielten wir uns gut. Mit Werner suchte ich regelmäßig diverse Ausstellungseröffnungen, um uns beim Buffett ordentlich satt zu essen.
Während ich fleißig zu studieren begann, führte Werner sein Leben weiter. Ich traf ihn immer wieder. Durch ihn kam ich in Kontakt mit Stadtstreichern, kleinen und großen Kriminellen und sogar mit einem Drogenschmuggler. Unter ihnen waren einige, die mir später bei meinen Forschungen helfen konnten. Hin und wieder suchte er uns zu Hause auf und belustigte meine Kinder mit allerhand Späßen und kleinen Geschenken. Leider konnte ich nicht verhindern, dass Werner immer mehr verwahrloste und schließlich zu einem echten intellektuellen Streichstreicher wurde.
Er blieb ein gebildeter Herr, der täglich in diversen Kaffeehäusern, Studentenwohnheimen, Bahnhofshallen usw., eine Menge von Zeitungen las. Ich gab ihm manchmal etwas Geld, was er sonst noch so brauchte, erhielt er durch staatliche Stellen, Fürsorgeeinrichtungen o.ä. Geschlafen dürfte er überall haben. Meine Kinder schätzten ihn und freuten sich, ihn zu sehen, eben wegen seiner heiteren Art. Er brachte ihnen auch immer wieder etwas mit. Dann wurde es still um Werner. Und schließlich fand man ihn erfroren am Spittelberg.
Ich widme seinem Andenken diese Zeilen. Möge ihm der Himmel freundlich gesinnt sein.
Das folgende Gedicht, es stammt von Michael Ende, erinnert mich etwas an Werner Kohlmaier und andere noble Stadtstreicher, die ihren Stolz haben und niemandem auf die Nerven gehen wollen. Auch sie haben ihre Würde.