Das Abenteuer der Feldforschung – die „10 Gebote“ und der „Forschungsplan“

 „Zur Methode (- Methodologie) wird nur der getrieben, dem die Empirie lästig wird“

 

(Goethe meint damit wohl, dass manche Schreibtischgelehrte lieber über Methoden phantasieren, anstatt gut und gründlich zu forschen).

 

„Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünkt: Mit den Augen zu schauen, was vor den Augen dir liegt!“ (Goethe)

In den 1980er Jahren ging ich daran, aufbauend auf meinen Erfahrungen als Feldforscher an meinem Buch „Methode der Feldforschung“ zu arbeiten. Es erschien schließlich bei Böhlau und wurde in die Buchreihe UTB aufgenommen (2001).

 

 

Es wird viel über Methoden gerade in den Sozial- und Kulturwissenschaften diskutiert und geschrieben. Dabei werden die Texte über diese immer komplizierter, wobei, so meine ich, die Erkenntnisse bisweilen dürftig sind – anders als bei der echten Feldforschung im Sinne der Kultursoziologie bzw., der Kulturanthropologie , die nicht mit Fragebögen arbeitet.

Unter Fußballfans
Unter Fußballfans

Und grad mitt in die Welt hinein !

Ich sag' es dir, ein Kerl, der spekuliert,

Ist wie ein Tier auf dürrer Heide,

Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt.

Und ringsherum liegt schöne grüne Weide.

(Johann Wolfgang von Goethe, Faust)

 

Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit,

nichts ist exotischer als unsere Umwelt,

nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.

Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt

als die Zeit, in der man lebt.

(Egon Erwin Kisch)

 

Ein paar Gedanken zur Wissenschaftstheorie

 

Für gewöhnlich unterscheidet man in den Sozial- und Kulturwissenschaften, wie der Soziologie und Ethnologie zwischen „quantitativen“ und „qualitativen“ Forschungsmethoden. Bei den quantitativen Verfahren geht es im Wesentlichen um Messungen, wie Kriminalitätsraten oder um das Zählen von Einstellungen – z.B. gegenüber Politikern.

 

Bei den qualitativen Methoden, zu denen die teilnehmende Beobachtung und das ero-epische Gespräch gehören, geht es dagegen um das Beschreiben oder Festhalten von sozialem bzw. kulturellem Handeln – im Sinne des großen Soziologen Max Webers, der meint, dass es Aufgabe der Soziologie ist, „soziales Handeln deutend verstehen und ursächlich erklären“. Mit den quantitativen Verfahren, zu denen wesentlich die Fragebogenuntersuchungen gehören, gelingt es nicht, das soziale Handeln mit seinen Ritualen und Symbolen in seiner Buntheit zu erfassen.

 

Der amerikanische Soziologe Fillstead überlegte daher dies: „Wir entfalten technische Spezialisierungen und denken dabei kaum daran, ob sie eigentlich dazu taugen, die Realität der empirischen sozialen Welt zu erfassen.

Der wachsende Trend zur Quantifizierung hat zu einem verminderten Verständnis der empirischen sozialen Welt geführt. Wenn sie, die Soziologen, menschliches Handeln besser verstehen wollen, müssen sie, statt einem immer größeren Abstand von den Phänomenen der empirischen sozialen Welt herzustellen, in direkten Kontakt mit ihnen treten“ (zit. In : Girtler, Methoden der Feldforschung, S 35). Ähnlich meint auch Stanislaw Andreski in seinem Buch „Hexenmeister der Sozialwissenschaften“: „Und die methodologischen Rigoristen sind Köchen vergleichbar, die uns allen ihre glänzenden Herde, Mixer, Saftmaschinen und sonstige Sachen zeigen, ohne etwas Essbares herzustellen“ (a.a.O., S 36).

 

Es ist bemerkenswert, dass die quantitativen Methoden historisch auf dem naturwissenschaftlichen Denken der Aufklärung im 18.Jh. aufbaut, als man Gesetze für die Kulturentwicklung zu finden hoffte. Es waren die schottischen Moralphilosophen, allen voran, Adam Ferguson (1723 – 1816) – er gilt als einer der Mitbegründer der Soziologie -, die davon ausgingen, dass Gesellschaften und deren Entwicklung gleich physikalischen Objekten studiert werden können. Dieses physikalische Denken findet sich bereits bei dem Philosophen Descartes, der in seinem Buch „Traite de l’homme“ (1632) die Lehre vom Menschen als Maschine vertrat. In der Tradition von Descartes steht der Arzt Lamettrie, der 1748 in seinem Buch „L’homme machine“ den Menschen als Maschine beschreibt. Diese Geistestradition ist heute noch bemerkbar.

 

Kritisiert wurde diese naturwissenschaftliche Richtung, die von der Gesetzmäßigkeit der sozialen Entwicklung ausgeht, von den Philosophen Dilthey, Windelband und Rickert, die meinten, dass Geschichtswissenschaft vom Individuum auszugehen habe. Dem Erklären der Naturwissenschaft wird das Verstehen gegenübergestellt. Dilthey spricht von der hermeneutischen Methode als die der Methode der Geschichtswissenschaft (hermeuein – griech. – d.h. deuten, ursprgl. Auslegen von Göttersprüchen). Die Geschichtswissenschaft und ebenso die Soziologie, wie ich sie verstehe, suchen also nicht nach Gesetzmäßigkeiten sondern versuchen, soziales Handel aus dem jeweiligen Gesamtzusammenhang zu erkennen (verstehen).

 

Das Handeln zwischen den Menschen ist vor allem dadurch bestimmt, dass diese ihr Handeln gegenseitig deuten und auf Grund ihrer Deutungen handeln. Der Mensch typisiert bei seinem Handeln, zu dem Rituale und Symbole gehören. Diese Typisierungen im Alltag, wie z. B., dass gewisse politische Gruppen übel sind, bestimmen das Handeln.

 

Historische bzw. soziale Vorgänge sind nicht wiederholbar. Es gibt demnach keine Gesetzmäßigkeiten des Handelns, wohl aber ein typisches Handeln.

 

Daher ist das Konzept Poppers, wonach Gesetzeshypothesen falsifizierbar sind, nicht für die Soziologie und die Geschichtswissenschaft anwendbar. Der Soziologe bzw. Historiker kann höchstens Tendenzen feststellen, aber keine Gesetze – nur diese sind falsifizierbar. Ich kann z. B. nicht das Gesetz aufstellen, dass Vagabunden z. B. täglich Alkohol zu sich nehmen, ich kann höchstens sagen, dass es typisch für diese und jene Vagabunden ist, dass sie regelmäßig Alkohol zu sich nehmen. Wenn ich nun Vagabunden treffe, die nur einmal in der Woche Bier zu sich nehmen, so wird dadurch meine Überlegung, dass Vagabunden regelmäßig trinken nicht falsifiziert. Die Tendenz bleibt, auch wenn ein Vagabund zum Antialkoholiker wird.

 

Ein solches Verhalten kann der Soziologe durch Gespräche und Beobachtungen herausfinden, aber nicht durch Fragebögen usw.

Gedanken zur Methode – der Weg der Forschung

 

Das Wort „Methode“ riecht nach Abenteuer, schließlich leitet es sich von den griechischen Wörtern „odoV“ für Weg und „ meta“ für „nach“ oder „dorthin“ ab.

„MeqodoV“, Methode, ist demnach der „Weg, der dorthin führt“, auf dem ich bestimmtes Ziel erreiche oder zu einer angestrebten Erkenntnis komme.

Es ist übrigens, dies nur nebenbei, nicht uninteressant, dass das altgriechische Wort „meqodeia“, das zweifellos mit „meqodoV“ verwandt ist, „List“ oder „Betrug“ bedeutet.

 

Demnach könnte man meinen, dass derjenige, der sich auf den Weg zur Erkenntnis macht, auch einer gewissen Schläue bedarf. Nicht umsonst ist Hermes, der Gott der Händler und Wanderer, auch der Gott der Diebe.

 

Jedenfalls weist „Methode“ auf den Weg hin, der mir anzeigt, wie ich am besten zu dem von mir als Forscher angestrebten Ergebnis komme. Und dieser Weg kann ja nach Wissenschaft höchst spannend sein.

 

Will ich also etwas über die Geschichte einer Gegend erfahren, so habe ich mich in die Archive zu begeben, oder will ich wissen, welche Pflanzen in Afrika blühen, so muss ich dorthin fahren, oder bin ich daran interessiert zu erfahren, wie der menschliche Körper funktioniert, so habe ich in diesen zu blicken. Und will ich wissen, wie Menschen einer bestimmten Gruppe leben und wie ihre Rituale aussehen, muss ich mir die Mühe machen, an ihrem Leben irgendwie teilzunehmen und mit ihnen zu reden.

 

Und all dies hat mit Neugier zu tun, denn der echte Feldforscher und die echte Feldforscherin sind verdammt neugierig, bevor sie sich auf den Weg der Forschung machen. Damit begeben sie sich in echte Abenteuer.

 

Es ist die Neugier, die ihn und sie treibt, hinter die Schleier der Wirklichkeit zu schauen und darüber zu berichten.

Abenteuerliche Neugier paart sich beim Forscher mit Sympathie für die Menschen.

Der klassische Ausdruck "Feldforschung" für die Arbeit des Forschers in der Buntheit des Lebens entstammt den alten Kulturwissenschaften, deren Vertreter hinaus in die Welt und zu den Menschen gegangen sind, um deren Kulturen mit all ihren Ritualen und Symbolen zu erforschen.

 

Feldforschung ist ein schönes Wort, da es mit dem „Feld“ zu tun hat, in dem das altnordische Wort „fold“ für Erde steckt. Verwandt mit „Feld“ dürfte „Felsen“ sein (vgl. Kluge, 1960, S 191).

"Feldforschung" erinnert an die Arbeit des Bauern, der von seinem Hof auf das Feld wandert, um jene Dinge zu säen oder zu ernten, die er und die Seinen für ihr Überleben benötigen.

 

Ähnlich verlässt der Wissenschaftler seine Studierstube, um im Leben, am rauen Feld, sich all das zu erarbeiten, das er seiner Wissenschaft hinzufügen kann. Feldforschung in diesem Sinn führt der Archäologe durch, der sich auf Ausgrabungen begibt, der Historiker, der nach geheimnisvollen Dokumenten sucht, der Ethnologe, der das Leben in indischen Dörfern erkundet, aber auch der Soziologe, der über Fußballfans, Wilderer, feine Leute und Vagabunden forscht.

 

Echte Feldforschung ist also Abenteuer, auch wenn sie in der eigenen Gesellschaft bei Vagabunden, Bauern und anderen feinen Leuten durchgeführt wird. In diesem Sinn habe ich meine „10 Gebote der Feldforschung“ verfasst, nämlich als einen Weg, um über menschliches kulturelles Leben zu forschen.

 

Ich meine , der echte Feldforscher hat mehr von einem Eroberer oder einem verwegenen Bergsteiger an sich, der fremde Welten und unbekannte Höhen erobern und kennen lernen will, als von einem umsichtigen Theoretiker, der seinen Schreibtisch nur selten verlässt. Der Feldforscher bedient sich vor allem der Königsmethoden der teilnehmenden Beobachtung und des ero-epischen Gesprächs - ich bin ein Gegner des Wortes „Interview“ - , die die Feldforschung zu einem höchst spannenden Unternehmen machen (siehe dazu näher in meinem Buch).

 

Diese beiden Methoden, auf die sich meine „10 Gebote“ hauptsächlich beziehen, sind strategisch nicht voneinander zu trennen. Es sind Methoden, die nicht mit einem vorgefassten Forschungsplan, Hypothesen und diversen "Ritualen" (wie standardisierte Beobachtungsmethoden und Ausfüllen von Fragebögen) den Forscher binden.

 Damit hängt die Pflicht zusammen, die Menschen, über die er arbeitet,

ernst zu nehmen. Der Mensch ist nämlich kein reagierendes gedankenloses Wesen, sondern er schafft sich selbst eine Welt und gibt ihr Sinn, um in ihr mehr oder weniger erfolgreich handeln zu können.

 

Ein Sozialforscher, der dieses Handeln erfassen will, muss sich daher weitgehend unbeeinflusst von irgendwelchen Hypothesen der betreffenden sozialen Realität nähern. Ein echtes Forschen muss flexibel sein, es muss die jeweilige soziale Situation ausleuchten können und darf nicht durch kleinliche Instrumentarien behindert sein. Und hierin liegt die Freiheit des wahren Feldforschers und auch seine Ethik.

 

Ein gründliches und ernsthaftes Forschen mit diesen beiden Methoden, die direkt mit Menschen zu tun haben, kann zeitaufwendig sein und erfasst die ganze Person, es kann aber auch frustrierend sein. Im Vergleich dazu sind jene Methoden, bei denen standardisierte Fragebögen vom Schreibtisch aus oder über Internet verschickt werden, eher problemlos, aber auch jene "qualitativen" Methoden, bei denen kein wirklich enger Kontakt zu den betreffenden Menschen existiert, sind eher langweilig und bringen nur wenig.

 

Zum Abenteuer, wie ich es verstehe, gehört die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, und die Freude an Situationen, die nicht zum Alltag des „braven“ Bürgers gehören, die ungewöhnlich, seltsam und auch aufregend sind (vgl. dazu Grimms Deutsches Wörterbuch Band 1, 1854 S 27).

 

Feldforschung und Abenteuer sind eng miteinander verbunden, zumindest für die Studien, die ich durchgeführt habe. Bereits meine Forschungen bei Wiener Großstadtvagabunden und bei der Wiener Polizei, die ich am Beginn der achtziger Jahre durchgeführt habe, waren voll von kleinen und großen Abenteuern. Abenteuer erlebte ich auch bei meinen Forschungen über Wildschützen im Gebirge und

schließlich bei meinen Forschungen in Wiens Unterwelt und vor allem bei Wiener Dirnen und Zuhältern. Interessant ist, dass manche Kolleginnen und Kollegen meine Art der Forschung eher argwöhnisch beäugt haben und auch noch beäugen. Dies war wohl auch der Grund, dass die mir sehr sympathische, aber leider schon verstorbene Anne Honer meine Art der Feldforschung geradezu liebenswürdig als „hemdsärmelige Praxis“ bezeichnete (Honer,1993,S 241). Darob war ich allerdings geehrt, ich schicke Frau Honer meinen Dank in die Ewigkeit nach.

Das „Feld“

 

Feldforschung mit ihren Königsmethoden der teilnehmenden Beobachtung und dem ero-epischen Gespräch kann eine höchst spannende, aber auch eine mitunter mühevolle Arbeit sein kann (siehe zu meiner Methode der Beobachtung und des ero-epischen Gesprächs: Girtler 2001) . Der klassische Ausdruck "Feldforschung" für die Arbeit des Forschers in der Buntheit des Lebens entstammt den alten Kulturwissenschaften, deren Vertreter hinaus in die Welt und zu den Menschen gegangen sind, um deren Kulturen mit all ihren Ritualen und Symbolen zu erforschen.

 

Es ist nicht Sache des Feldforschers über irgendwelche liederlichen Dinge, wie dem Geschehen in einem Bordell entrüstet zu sein. In diesem Sinn versteht sich mein 9. Gebot der Feldforschung, in dem ich festhalte, dass der Feldforscher sich nicht als Sozialarbeiter oder Richter aufspielen soll. Er ist bloß Zeuge, dies entspricht dem echten Abenteurertum, denn der Abenteurer lässt sich nicht auf irgendwelche moralischen Diskurse o.ä. ein, wenn er daran geht, eine neue Welt für sich zu erkunden (siehe Girtler, 10 Gebote der Feldforschung, 2004).

 

Das Abenteuer des Zugangs

 

Es ist nicht immer leicht, einen gelungenen Zugang in die betreffende Gruppe zu finden, überhaupt wenn diese Gruppe mit Kriminalität oder zumindest mit abweichendem Handeln verbunden ist. Man braucht dazu nicht nur viel Geduld und ein weites Herz sondern auch viel Glück. Dies macht auch das Abenteuer aus.

 

Für meinen Zugang in die Welt der Prostitution war ein schwerer Motorradunfall, den ich vor Jahren hatte und der sich schließlich für mich als Glück erwies.

Die 10 Gebote der Feldforschung

 

Die in meinem Methodenbuch formulierten „10 Gebote der Feldforschung“ verbunden mit eingehenderen Gedanken zu diesen sind schließlich Gegenstand meines Büchleins „10 Gebote der Feldforschung“ (Lit – Verlag, Wien, Münster 20üß 2. Aufl.).

 

Auf diesem Büchlein ist auch unser schon lange in den ewigen Jagdgründen weilender Dackel Dr. Waldi abgebildet. der mich u.a. begleitete, wenn ich zu Wildschützen wanderte, um von diesen etwas über ihre Strategien des Jagens zu erfahren.

 

Die 10 Gebote der Feldforschung

 1. Du sollst einigermaßen nach jenen Sitten und Regeln leben, die für die Menschen, bei denen du forschst, wichtig sind. Dies bedeutet Achtung ihrer Rituale und heiligen Zeiten, sowohl in der Kleidung als auch beim Essen und Trinken. - Si vivis Romae Romano vivito more!

 

2. Du sollst zur Großzügigkeit und Unvoreingenommenheit fähig sein, um Werte zu erkennen und nach Grundsätzen zu urteilen, die nicht die eigenen sind. Hinderlich ist es, wenn du überall böse und hinterlistige Menschen vermutest.

 

3. Du sollst niemals abfällig über deine Gastgeber und jene Leute reden und berichten, mit denen du Bier, Wein, Tee oder sonst etwas getrunken hast.

 

4. Du sollst dir ein solides Wissen über die Geschichte und die sozialen Verhältnisse der dich interessierenden Kultur aneignen. Suche daher zunächst deren Friedhöfe, Märkte, Wirtshäuser, Kirchen oder ähnliche Orte auf.

 

5. Du sollst dir ein Bild von der Geographie der Plätze und Häuser machen, auf und in denen sich das Leben abspielt, das du erforschen willst. Gehe zu Fuß die betreffende Gegend ab und steige auf einen Kirchturm oder einen Hügel.

 

6. Du sollst, um dich von den üblichen Reisenden zu unterscheiden, das Erlebte mit dir forttragen und darüber möglichst ohne Vorurteile berichten. Daher ist es wichtig, ein Forschungstagebuch (neben den anderen Aufzeichnungen) zu führen, in das du dir jeden Tag deine Gedanken, Probleme und Freuden der Forschung, aber auch den Ärger bei dieser einträgst. Dies regt zu ehrlichem Nachdenken über dich selbst und deine Forschung an, aber auch zur Selbstkritik.

 

7. Du sollst die Muße zum "ero-epischen (freien) Gespräch"aufbringen. Das heißt, die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, dass sie sich geachtet fühlen. Man muss sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen. Erst so lassen sich gute Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle erstellen.

 

8. Du sollst dich bemühen, deine Gesprächspartner einigermaßen einzuschätzen. Sonst kann es sein, dass du hineingelegt oder bewusst belogen wirst.

 

9. Du sollst dich nicht als Missionar oder Sozialarbeiter aufspielen. Es steht dir nicht zu, "erzieherisch" auf die vermeintlichen "Wilden" einzuwirken. Du bist kein Richter, sondern lediglich Zeuge!

 

10. Du musst eine gute Konstitution haben, um dich am Acker, in stickigen Kneipen, in der Kirche, in noblen Gasthäusern, im Wald, im Stall, auf staubigen Straßen und auch sonst wo wohl zu fühlen. Dazu gehört die Fähigkeit, jederzeit zu essen, zu trinken und zu schlafen.

 

zu Gebot 7: Den Begriff "ero-episches Gespräch" habe ich in Anlehnung an Homers "Odyssee" entwickelt. In der "Odyssee" fragt stets einer und ein anderer erzählt, wobei sich jeder von beiden in das Gespräch einbringt - dabei wird getrunken und gescherzt. Den Begriff Interview finde ich schlecht, denn er entstammt der Journalistensprache. Als Zögling des Klostergymnasiums zu Kremsmünster lernte ich sechs harte Jahre lang Altgriechisch. Hierbei ist zu erwähnen, dass ich mich als wahrer Altphilologe im besten Sinne des Wortes sehe. Das heißt, ich brachte Liebe (philos - der Freund, der Liebhaber) für das alte Griechisch auf, ohne deswegen ein guter Schüler gewesen zu sein. So erfreuten und erfreuen mich besonders die Schriften Homers, derart, dass ich jetzt auf diese zurückgriff. Schließlich erfährt der Kulturwissenschafter eine Menge aus der "Odyssee" über das Leben im Alltag der Antike.

 

Im Wort "ero-episch" stecken folgende altgriechische Vokabeln: erotan - fragen und eipon (epos) - reden, mitteilen (Erzählung)

Die Verandasoziologen und die Einsamkeit des Forschers

 

Einer der wohl bemerkenswertesten Gedanken zur Feldforschung stammt von dem Kulturanthropologen Bronislaw Malinowski um 1915 während seiner berühmten Studien bei den Trobriand Insulanern:

 

Wir brauchen ganz unzweifelhaft eine neue Methode für das Sammeln von Beweisen. Der Anthropologe (Soziologe) muss seine bequeme Position im Sessel auf der Veranda der Missions- oder Regierungsstation oder einer Plantage aufgeben...Er muss hinausgehen in die Dörfer und den Menschen bei der Arbeit in den Gärten, am Strand und im Dschungel zusehen... Die Information muss aus dem vollen, direkt beobachteten Leben der Eingeborenen kommen. Die Anthropologie in freier Wildbahn ... ist schwere Arbeit, aber sie macht auch Freude" (Malinowski 1954,S. 146).

 

In Anlehnung an Malinowski könnte man jene Soziologen, die den direkten Kontakt zu Menschen scheuen und in Distanz über sie berichten, als "Verandasoziologen" bezeichnen.

 

Auf ähnlichen Überlegungen wie die Malinowskis baut auch die für die "Feldforschung“ wichtige Chicagoer Schule der Soziologie auf. So riet ihr großer Vertreter Robert Ezra Park (1864-1944) seinen Studenten, die Stadt Chicago zu erwandern, um die in ihr lebenden Kulturen näher kennen zu lernen. Park hat sich seine Studien in Chicago im wahrsten Sinn des Wortes "ergangen“. Er verstand noch mit bloßen Augen zu "sehen" und benötigte keine instrumentellen Krücken.

 

Für meine Studentinnen und Studenten entwickelte ich diesen „Forschungsplan“ als Orientierungshilfe bei ihren Forschungen:

Forschungsplan

für Studien, bei denen menschliches Handeln mit seinen Symbolen, Ritualen, Tricks, Stigmatisierungen, Strategien der Vornehmheit u.ä. erforscht werden soll

Die Wahrheit liegt im Feld!

 

Ich bitte höflich die Studierenden und Forschenden vorsichtig gegenüber diversen modernen soziologischen „Theorien“ wie der „Ethnomethologie“, der „Grounded theory“ usw. zu sein, diese dienen eher der Verschleierung der sozialen Wirklichkeit als ihrer Erforschung. Der Soziologe Stanislaw Andreski meinte daher zu Recht über diese Theorien in seinem Buch „Hexenmeister der Sozialwissenschaften“: „Bluff in Hülle und Fülle und eine erschreckende Armut an neuen Ideen“.

 

Die Forschung bzw. die Methode richtet sich nach dem Thema (der Begriff „Fragestellung“ verwirrt eher, denn ich weiß noch nicht, welche Fragen sich ergeben), das ich mir vorgebe (z.B. Lebenswelt und Alltagsstrategien von Fußballfans, Jägern, Dirnen usw.).

 

 

 

Die ersten Schritte der Forschung bzw. des Sammelns von Material orientieren sich am Vorwissen (Vorverständnis) (z. B. dass Fußballfans und Jäger gefährliche Zeitgenossen oder dass Dirnen unmoralisch sind). Genau definierte Hypothesen (von altgriech. uπoθεσις - wörtlich: Vorlage) sind eher hinderlich als dass sie helfen.

 

Der gesamte Prozess des Datensammelns (beginnend mit dem Vorverständnis, das durch Alltagserfahrung, Literatur usw. bedingt ist) ist ein fortlaufendes Interpretieren und Überprüfen von Beobachtungen und Aussagen (bzw. Theorien) (man hat also kein fixes Forschungsprogramm bzw. kein „Forschungsdesign“).

 

Am Beginn der Forschung - aber auch während dieser - ist zu einem Blick in die Geschichte bzw. in die Geschichtsbücher zu raten (der Soziologe P. Berger meint, die „soziologische Reise wäre nur halb so spannend, wenn das Gespräch mit dem Historiker fehlte“). Z.B. kann die Geschichte eines Kaffeehauses, Dorfes, Fußballclubs einiges über das Handeln der heute lebenden Menschen aussagen. So ist das Leben der „Landler“ in Rumänien ohne Wissen über die Verbannung ihrer Vorfahren um 1750 kaum zu verstehen.

 

 Zwei Prinzipien bestimmen die Forschung:

 

1. „Beweglichkeit“ (oder Offenheit: der Forscher hat kein fixes Programm, also keine fixen Hypothesen) Es sind gute Kontakte in das Forschungsfeld aufzubauen, wobei man noch nicht weiß, wie viele Leute man im Sinne der „Offenheit“ schließlich benötigt.

 

2. „gegenseitiges Lernens“ (oder Kommunikation: - beide erzählen).

 

Wichtig ist der direkte Kontakte zum Handeln der Menschen - der echte Forscher ist kein „Verandasoziologe“, der von der Ferne menschliches Handeln beobachtet. Das Augenmerk ist als zu richten: auf das soziale Handeln in den jeweiligen Situationen mit ihren typischen Regeln, Ritualen (z.B. ritualisierte Mutproben, feines Benehmen, Strategien der Ehre, polizeiliches Vorgehen...) und auf die für das jeweilige Handeln charakteristischen Gegenstände bzw. Symbole (z.B. Sprache, Schmuck, Tattoos, Kleidung, teure Autos, heilige Räume usw.) Aber auch die geographische Lage kann bedeutsam sein (s. meine „10 Gebote der Feldforschung“).

 

Neben den diversen Protokollen und anderen Aufzeichnungen rate ich zu einem Forschungstagebuch, in dem man Gedanken, Probleme usw., die sich aus der Feldforschung ergeben, für sich privat festhält, dies trägt auch zur Selbstkritik bei (siehe Punkt 6 meiner 10 Gebote der Feldforschung).

 

Im Wesentlichen sind es drei Schritte für die Durchführung einer Studie, die danach fragt, wie die betreffenden Menschen ihre Welt selbst sehen und nicht wie sie der Soziologe sieht (die folgende Darstellung ist eine Kurzfassung meines Buches „Methoden der Feldforschung“, das ich empfehle):

 

1.    Sammeln von Material vor allem mit den Methoden der „teilnehmenden Beobachtung“ und des „ero-epischen“ Gesprächs

 

2.    Interpretation (Auswertung) des gewonnenen Materials

 

3.    Darstellen der Ergebnisse und Zusammenfassung

 

Zu 1: Die beiden wichtigsten Methoden (von altgriech. meta – „nach“ und hodos - „Weg“) sind die „teilnehmende Beobachtung“ und das „ero-epische“ (von altgriech. - eromai –„fragen“ und epein – „erzählen“) Gespräch (ich bin ein Gegner des Wortes Interview - es kommt aus der Journalistensprache) - der Forscher bringt sich selbst ein, er erzählt auch von sich. Die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Daher schreibt Jean-Jacques Rousseau: Sobald man einen Menschen ausfragt, beginnt er schon auf seiner Hut zu sein, und wenn er gar glaubt, man wolle ihn zum Schwatzen bringen, ohne wirklich Teilnahme für ihn zu empfinden, so lügt er oder schweigt oder verdoppelt seine Vorsicht und will lieber für einen Dummkopf gelten, als zum Narren fremder Neugierde werden. Jedenfalls gibt es keinen schlechteren Weg, in den Herzen anderer zu lesen, als den Versuch, das seine dabei verschlossen zu halten" .

 

Während der Beobachtung empfehle ich die wichtigen Themen stichwortartig festzuhalten. Auf den Stichwörtern aufbauend ist dann zuhause ein gutes Beobachtungsprotokoll zu verfassen. Genauso ist es mit den Gesprächsprotokollen. Wenn es möglich ist, sind Gespräche mit Tongeräten aufzunehmen und anschließend genau abzuschreiben. Die ersten Gespräche sind mit Leuten zu führen, die in der betreffenden Lebenswelt sich gut auskennen. Aufbauend auf den ersten Erfahrungen sind dann weitere Beobachtungen und Gespräche durchzuführen bzw. Kontakte zu anderen Leuten aufzunehmen. So kommt man (im Sinne der „Offenheit“) zu neuen Überlegungen, denen man dann weiter nachspürt (auf nichts anderes kommt die geheimnisvolle „grounded theory“). Die eigenen Fragen sind in den Protokollen in Klammer nur anzudeuten, wenn sie wichtig sind. Sonst empfehle ich, sie wegzulassen, da sie den Redefluss des Gesprächspartners im Text stören. Es bedarf großer Mühe , um gute Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle zu verfassen. Ich empfehle (nicht allzu) breite Ränder, in denen die Einzelthemen, die für Interpretation und Gliederung der Arbeit bedeutsam sind, festgehalten werden (wie Hierarchien, Beleidigungen, Tricks des Überlebens usw.).

 

Wenn es wichtig erscheint, sind auch andere Arbeiten zu dem Thema, aber auch Gerichtsakte, Zeitungsberichte, Tagebuchaufzeichnungen, usw. herangezogen werden.

 

 

 

Die Forschung endet, wenn man merkt, dass die Ergebnisse sich wiederholen und keine wesentlich neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.

 

 

 

Zu 2.: Ziel der Interpretation bzw. der Auswertung der gesammelten Protokolle ist die Herausarbeitung des „typischen Handelns“ (im Sinne Max Webers), wie der Höflichkeitsregeln, Formen der Stigmatisierung, Hierarchien usw. (Interpretieren ist stets ein subjektives Verfahren - eine echte Objektivität kann es nicht geben, man kann sich der „Wahrheit“ nur nähern. Soziologie ist also Interpretation! Die Verantwortung für eine redliche Interpretation liegt im Forscher selbst.) Keineswegs geht es in den Sozial- und Kulturwissenschaften um „Gesetzmäßigkeiten“, wohl aber um Tendenzen, also um typische Phänomene (vgl. K.O. Apel– s. Girtler 2001). Auch in diesem Stadium ist es wichtig, in die Geschichte und auch eventuell in die Sprachwissenschaft zu blicken. So sah ich bei meinem Studium in der Welt der Ganoven, dass in dieser uralte Wörter aus dem Rotwelschen verwendet werden.  

 

Zu 3.: Nun werden die Ergebnisse der Interpretation nach den gefundenen Einzelthemen (wie: Rituale der Fans, Sitzordnungen usw.) dargestellt - verbunden mit den entsprechenden Passagen aus den Gesprächs- und Beobachtungsprotokollen. Zuvor ist einleitend das Interesse am Forschungsgegenstand , die verwendeten Methoden, sowie Freuden und Ärger bei der Forschung darzutun. Dies bereitet den Leser auf das Abenteuer der Forschung vor. Wichtig für eine wissenschaftliche Arbeit ist das genaue Zitieren der Quellen (Bücher, Archiv- und Bildmaterial u.ä.).

 

 Schließlich ist eine Zusammenfassung anzufügen, in der noch einmal kurz die einzelnen Schritte der Forschung festgehalten werden. Anhang : Liste der Literatur und anderer Quellen. Für die Niederschrift ist eine schöne und klare deutsche Sprache wichtig (die sich eher an Heinrich Heine als an diversen „Sprachkünstlern“ orientiert). Ich wünsche viel Freude und Glück beim Forschen, Interpretieren und Schreiben! Roland Girtler Literatur dazu: Roland Girtler, Methoden der Feldforschung, Wien – Böhlau (UTB), 4. Aufl. 2001; Roland Girtler, 10 Gebote der Feldforschung, Wien, Münster - Lit 2004 Siehe auch: https://sites.google.com/site/kukvfs/