I. Zu den Randkulturen des Schutzes und des Überlebens

Gerade diese Kulturen sind wesentlich mit Grenzen verbunden. Grenzen sichern den Vagabunden einen gewissen Schutz oder sie verhelfen zu einem einigermaßen angenehmen Leben wie eben im Gefängnis.

Die Sandler : das Überleben auf der Straße

 

(Diese Ausführungen ergänzen das Kapitel in meinem Buch „Randkulturen“ über Sandler und Vagabunden)

 

Meine Forschungen unter den Sandlern, obdachlosen Nichtsesshaften, führte ich in Wien Ende der 1970er Jahre durch. Wie ich an anderer Stelle erwähnt habe, finde ich das Wort Sandler nicht abwertend, schließlich ist mit ihm eine alte Geschichte verbunden. Das Wort Sandler dürfte vom mittelhochdeutschen „sandlere“ stammen, was so viel heißt wie “müßig gehen“, es könnte sich aber auch vom Wort „Sand“ ableiten – der Sandler war demnach der, der bei der Ziegelherstellung den Sand reichte o.ä.

 

Ich traf mich mit diesen Leuten, wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, in den Bahnhöfen, in Parks und auf öffentlichen Plätzen Wiens. Überall dort, wo sie herumlungern, große Reden führen und Bier oder Schnaps trinken. Mein Interesse am Leben dieser Leute stammt aus meiner Studentenzeit, als ich mir auf dem Wiener Naschmarkt mein Geld verdient habe. Als Fahrer eines kleinen Lastautos war ich angestellt worden, um damit Gemüse und Obst, das ich am Naschmarkt aufzuladen hatte, zu einzelnen Greisslern in Wiens Außenbezirke zu bringen. Beim Aufladen der Waren kam ich mit Sandlern in Berührung, die für ein paar Schillinge Handlangerdienste verrichteten, um sich dann ein Bier kaufen zu können. Irgendwie erregten diese Leute meine Neugierde, denn sie erzählten mir, sie würden auf Parkbänken, in Eisenbahnwaggons oder in Abbruchhäusern schlafen.

 

Jahre später, mein Studium hatte ich abgeschlossen und war am Institut für Soziologie angestellt worden, ging ich, einem früheren Wunsche folgend, daran, diese Randkultur der Stadtstreicher zu erforschen. Ich sah dies als notwendig an, da sich bis dahin weder Sozialarbeiter noch Soziologen über die Kultur dieser Menschen Gedanken gemacht hatten. Manche Soziologen sahen in ihnen bloß Symbole einer üblen kapitalistischen Gesellschaft, in der sie als Gegenstand der Ausbeutung sich ständig betrinkend vegetieren.

 

Diesen Überlegungen entsprechend bräuchte man nur die Gesellschaft zu verändern und es würde keine Stadtstreicher mehr geben. Dies glaubte man, so scheint es, auch in den früheren Ländern des kommunistischen Ostens. Um diesen Anschein zu wahren sperrte man die Vagabunden einfach in die Gefängnisse. Daher waren auch nirgends im Osten gestrandete und obdachlose Menschen zu sehen.

 

Und man konnte stolz von sich behaupten, dass eine solche "ideale" Gesellschaft keine obdachlosen Vagabunden kenne. Aber es gab sie dennoch, nur nicht sichtbar. Und es gibt sie weiterhin, die Kultur der Degradierten und Ausgestoßenen.

 

Dass diese Menschen tatsächlich Angehörige einer alten Kultur sind, wurde mir so richtig bewusst, als ich einen Stadtstreicher, also einen Wiener Sandler, einmal fragte, was er am Nachmittag zu tun gedenke. Er antwortete mir, er wolle jemandem die "Rippe eindrücken". Ich erschrak und fragte, was dies bedeute. Nun erklärte er mir, er habe die Absicht, freundliche Menschen zu bitten, ihm etwas Geld für ein Bier zu geben. Die "Rippe eindrücken" heiße also so viel wie "betteln", schloss ich, ich konnte aber keine Beziehung zwischen "Rippe" und "betteln" herstellen. Ich stand vor einem Rätsel. Dieses löste sich, als ich im "Liber Vagatorum", dem um 1500 erschienenen, wahrscheinlich von einem Kriminalbeamten herausgegebenen Buch nachforschte. In diesem "Liber Vagatorum" ist neben den diversen Gauner und Bettlertricks auch ein Vokabular der Gaunersprache zu finden. Und in diesem las ich, dass das Wort "ripar" so viel wie "Seckel", also "Geldtasche", bedeute. Ich bin mir sicher, dass in dieser Randkultur der Sandler in dem Satz, jemandem "die Rippe eindrücken", das Wort "ripar" weitergetragen wird. Für mich ist dies ein Hinweis auf eine alte Kultur des Vagabundentums.

 

Bei meinen Studien lernte ich einen freundlichen Sandler kennen, der immerhin fast 15 Jahre Gefängnis hinter sich hatte. Er trank gerne und erzählte lustige Geschichten, mit denen er andere unterhielt und sie, wenn sie keine Sandler waren, dazu animierte ihm ein Bier zu zahlen. Ich teilte ihm ehrlich meine Absichten mit. Er war davon angetan und zeigte sich bereit, mich bei meinem Unternehmen zu unterstützen. Und zwar nicht, weil er meine Forschungsidee für prächtig hielt, sondern weil er in mir einen akzeptablen Kerl sah, mit dem er gerne sprach und Bier trank. Wichtig war wohl, dass ich mich nicht als großer Gelehrter aufspielte, der gescheite Sachen von sich gibt und der alles besser weiß, sondern als jemand, der Verständnis für das Leben dieser Menschen zeigt und sie nicht ändern will. Der wohl wichtigste Grundsatz bei Forschungen dieser Art ist, dass man sich den Menschen mit einiger Demut nähert und ein offenes Herz für ihre Probleme hat. Keineswegs ist es richtig, die Rolle des Sozialarbeiters oder Missionars zu spielen (siehe dazu mein Buch „Methoden der Feldforschung“ und die angefügten „ 10 Gebote der Feldforschung“).

 

Typisch für die Karriere von heutigen Vagabunden oder Sandlern ist, dass sie nicht selten Gefängnisaufenthalte hinter sich haben oder sonst wie z.B. nach Schicksalsschlägen zu Außenseitern und schließlich zu Alkoholikern wurden.

 

Sie tragen das Stigma des Ausgestoßenen und suchen in der Anonymität der Großstadt Schutz vor sozialer Kontrolle .Hier finden sie Kontakte zu Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Der Sandler sucht den Rückzug in eine Gruppe von Menschen, von denen er weiß, dass sie ihn einigermaßen akzeptieren. Die Großstadt bietet ihm jene soziale Freiheit, die das Dorf nicht bieten kann.

 

Grundsätzlich ist die Karriere des Sandlers bestimmt durch einen Prozess doppelten Versagens. Er ist ein Gescheiterter in der "normalen" Welt, aber oft auch ein Gescheiterter in der Kriminalität (siehe dazu näher in Girtler 1996).

 

Um unter Sandlern und kleinen Ganoven auch forschen zu können, bedarf es einer tiefgehenden Kenntnis der Gaunersprache, des Rotwelsch (siehe Girtler 1999).

 

Die heutigen Stadtstreicher, die Sandler Wiens, tragen nicht nur eine alte Sprache mit sich, sondern auch uralte Tricks und Strategien, um bettelnd einigermaßen in Ehren zu überleben. Dazu bedarf es einer deutlichen Abgrenzung gegenüber der Kultur der sesshaften und arbeitsamen Leute, über die man sich belustigt. Hier deutet sich die ehrenvolle Distanz zur körperlichen Arbeit an, die heute noch von Sandlern herausgestrichen wird, um sich selbst so etwas wie Würde zu geben.

 

Die Nachfahren der alten Vaganten, die Sandler und Stadtstreicher, tragen heute mit ihren Bierflaschen und Hunden zur Buntheit der Fußgängerzonen bei und wissen auch, was Ehre ist.

 

Auf besonders deutliche Weise demonstrierte dies ein bettelnder Stadtstreicher, den ich kennengelernt habe. Er hatte neben sich eine Tafel auf der - neben dem bescheidenen Hinweis, dass er um eine milde Gabe bitte - die stolze Bezeichnung "Baron der Landstraße" zu lesen war.

 

Um mit dem Stigma des arbeitsscheuen und daher nicht vollwertigen Menschen, mit dem der Sandler belastet ist, fertig zu werden, wird das negative Stigma umgedreht und positiv interpretiert.

 

Dies geschieht dadurch, dass man gegenüber Außenstehenden sich zum Beispiel als jemand präsentiert, der mit einiger Würde Arbeit ablehnt.

 

Man macht sich lustig über die Arbeit, man ironisiert sie. Wer diese Ironisierung der Arbeit beherrscht, kann mit einiger Hochachtung auch durch seine Kollegen rechnen, er hat Ehre. So meinte ein Sandler zu mir, als ich ihn fragte, wo er arbeiten würde: "Bei der Firma Lahntana!" Und als ich fragte, was dies heißen würde, ergänzte er: "Hier lehnt einer und dort lehnt einer". Das Stigma des Arbeitsscheuen wird hier zu einer Sache der Ehre

 

Die Kultur des Gefängnisses: Demütigungen, Hierarchien und Ehre

 

Das Gefängnis ist, wie der Soziologe Goffman festhält, eine "totale Institution“, in dem Sinn, dass der hier lebende Mensch einer gänzlichen Kontrolle unterliegt und er in seiner Bewegungsfreiheit grundsätzlich eingeschränkt ist. Dieses System zwingt seinen Insassen eine von den bisherigen Gewohnheiten vollkommen abweichende Lebensweise auf. Für den Gefängnisinsassen existiert ein nur beschränkter Kontakt zur Außenwelt. Es spricht viel dafür, sich über solche Anstalten Gedanken zu machen, denn sie sind Treibhäuser. in denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu ändern.

 

Das Gefängnis ist wesentlich dadurch bestimmt, dass der Mensch als Gefangener zwangsweise aus der bisherigen sozialen Umwelt ausgegliedert und in ein geschlossenes soziales System eingegliedert wird.

 

Obwohl die Häftlinge vollkommen kontrolliert erscheinen, hat sich auch im Gefängnis so etwas wie eine Kultur entwickelt, nämlich Strategien des Überlebens. Die im Gefängnis existierende Randkultur bezeichne ich als eine Kultur des Schutzes und des Überlebens.

 

Bei meinen Studien über Randkulturen kam ich häufig mit Leuten zusammen, die einige Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht haben. Und über einen Wiener Ganoven schrieb ich ein ganzes Buch, dessen wesentliche Teile sich auf das Leben in Gefängnissen beziehen und in dem die Hierarchie der Gefangen dargestellt wird.

 

Der Ganove, mit dem ich eine Zeit in engem Kontakt war, kam aus der Kultur der Kriminalität, das heißt, er gehörte zu jenen Männern, die beim verbotenen Glückspiel tätig waren und die vor Gewalttaten gegenüber Konkurrenten innerhalb der Szene nicht zurückschreckten. Jene Personen jedoch, die nicht in der Kriminalität zuhause waren, konnten damit rechnen, nicht von diesen Leuten provoziert zu werden.

 

Ganoven dieser Art besitzen mehr oder weniger strenge Verhaltensregeln, durch die sie sich von den weniger ehrenvollen Verbrechern unterschieden. Sie besitzen einen spezifischen Ehrenkodex, der gerade im Gefängnis deutlich wird.

 

Mir erzählte der Ganove Pepi Taschner zum Beispiel, dass er einmal mit einem Kinderschänder die Zelle teilen musste. Um diesem zu zeigen, dass er ihn verachte, befahl er ihm zur Strafe für seine Untaten nicht im Bett sondern unter diesem zu liegen.

 

Diese und ähnliche Geschichten interessierten mich und ich beschloss, mich näher mit dem Thema Gefängnis zu beschäftigen. Viel über den Alltag in diesen geschlossenen Anstalten erfuhr ich durch Briefe, die mir ein intelligenter Mörder, ein weiser Räuber, ein Betrüger und ein alter in Ehren ergrauter Gewohnheitseinbrecher schrieben. Aus diesen Briefen las ich, dass es so etwas gibt wie eine Kultur der Häftlinge, die ebenso ihre Tradition hat und die dem einzelnen, wenn er akzeptiert wird, die Möglichkeiten des Schutzes anbietet.

 

Die Welt des Gefängnisses ist voll von Ritualen der Degradierung. Der in das Gefängnis neu hinzugekommene Häftling muss daher eine Reihe von Degradierungsritualen über sich ergehen lassen. Durch diese wird ihm klargemacht, dass er nun ein anderer ist, neue Pflichten hat, nicht widersprechen darf und sich gänzlich einzuordnen hat. Zu diesen Ritualen gehören der Kleiderwechsel und das sogenannte "Zugangsbad", eine Art Taufe, durch die dem Gefangenen symbolisch sein neuer Status demonstriert wird.

 

Um mit der psychischen Belastung des Gefängnisses fertig zu werden, gibt es mehrere Möglichkeiten:

 

1.man zieht sich vollkommen in sich zurück, man verfällt in Stumpfsinn,

 

2.der Insasse weigert sich, mit dem Personal zusammenzuarbeiten,

 

3.er verhält sich diszipliniert, um vom Personal akzeptiert zu werden, oder

 

4. dies ist für uns interessant, er findet sich mit den Gegebenheiten ab und baut sich eine Existenz auf, mit der er halbwegs zufrieden ist.

 

Die Autonomie des Menschen wird gänzlich verletzt und eine Möglichkeit des persönlichen Rückzugs gibt es nicht. Jeder ist jedes aufgezwungener Genosse. Dostojewski spricht deshalb von der "Tyrannei der Kameradschaft". Die psychische Belastung des Häftlings ist enorm.

 

Ein großer Eingriff in die Intimsphäre jedes Gefangenen ist die Benützung des Klosetts, denn er ist dabei von seinen Kollegen, wenn überhaupt, nur durch einen Vorhang getrennt. Allerdings hat sich hierin angeblich bereits einiges geändert. In den Zellen ist also stets ein übler Geruch, da ständig, vor allem in größeren Gemeinschaftszellen, irgendjemand auf dem Klosett sitzt. Für den neu hinzukommenden Gefangenen bedeutet es eine Zeit, bis er sich an diese Form der Verrichtung der Notdurft gewöhnt hat. Dabei muss er sich einige Erniedrigungen von lästigen Kumpanen gefallen lassen, wie, wenn er zu lange sitzt: "Scheiß schneller!" oder ähnliche Bemerkungen.

 

Erst der langjährige und erfahrene Gefängnisinsasse gewöhnt sich an solche Degradierungen oder nimmt sie nicht mehr wahr.

 

Die Kultur und die Tradition des Gefängnisses kommen also den erfahrenen Ganoven zugute.

 

Zu dieser Kultur gehört auch das Rotwelsch, die Gaunersprache, die in den Gefängnissen einen fruchtbaren Boden hat und hier weitergetragen wird.

 

Beispielhaft seien hier auf ein paar Gaunerwörter verwiesen:

 

Strafanstalt Stein: Am Felsen, oder Mutterhaus.

 

Strafanstalt Garsten: bei den Mostschädeln.

 

Korrektionszelle: Keller, Tiafling (die Zelle befindet sich in der Tiefe, im Keller), Kure, Bunker.

 

Ausbruchsverdächtiger: Flieger, Schimmler

 

Davonlaufen: fliehen: beuli gehen, beulisieren, die Fliege machen, einen Flug machen, in die Blüah (Blühe) gehen, die Kurven kratzen, in den Arsch gehen, ein Loch suchen, abilassen, über die Häuser hauen.

 

Justizbeamte, Aufseher: der Kas (Käs) (vielleicht von: Kaiserlich Königlicher Arrestschließer) Spengler, greaner Wappler, der Greanspecht, Silberling, Silberklas und Silberblattler (Offizier mit Silber auf dem Kragenspiegel),Stockchef.

 

Hausarbeiter(Gefangener): Fazi(von: Kalfakter, lat. calefacere ‑heizen)

 

Unter einem falschen Namen im Gefängnis einsitzen: er pickt auf einem linken Schoem

 

Auf kulturelle Traditionen des Gefängnislebens weisen die alten Bücher über Ganoven hin.

 

Schöne Berichte dazu aus der Zeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts bringt Ave Lallemant in seinem Buch "Das deutsche Gaunertum" (1858).So beschreibt Ave Lallemant etwas für Gefangene heute noch ungemein Wichtiges, nämlich den Schmuggel von für den Gefangenen begehrenswerten Gütern in die Anstalt. Er schreibt: „Wer das Treiben in den Gefängnissen beobachtet hat, der muss gestehen, dass gerade alles, was im Gefängnis sich befindet, und was in dieses hineingerät oder aus ihm herauskommt, dem scharfen, erfinderischen Geist des Gauners zum Kasspern (Schmuggeln) dient, Das Genie des Gauners spottet aller Wachsamkeit, und feiert Triumphe, die einer besseren Sache würdig wären. Die Kassperei ist in der Tat die spezielle Gaunerei im Gefängnis, und ein ganz eigenes Feld und Studium (!) ......“

 

Mir erzählte ein ehrenwerter Ganove, dass Nachrichten zwischen Gefangenen geschickt von einem Stockwerk ins andere weitergegeben werden. Dies geschieht entweder durch Zurufe, durch Hausarbeiter und durch das sogenannte "Pendeln", bei dem ein auf einen Stein angebrachter Zettel mit der entsprechenden Nachricht von einem Zellenfenster zum anderen "gependelt" wird . Ave Lallemant bezeichnet diese Art der Nachrichtenübermittlung mit dem rotwelschen Wort "Kutsche" und schreibt: „Die Kutsche ist ein Faden, der von einem Fenster zum anderen gelassen ... auch schräg und zur Seite geführt wird. Aus dem Garn der Strümpfe, aus den Fäden der Hemden, Strohsäcke und Decken werden mit großem Geschick leichte und starke Schnüre zusammengesetzt... Ein Stückchen Brot oder Knäuel am unteren Ende des Fadens führt den Faden senkrecht in das untere Zellenfenster. Sehr häufig wird der Faden in pendelmäßige Schwingung gebracht, dass er das seitlich unten gelegene Fenster erreicht". Das mit der Nachricht weitergegebene Stück Papier wird in der Gaunersprache für gewöhnlich als "Gsiberl" bezeichnet. Ave Lallemant erzählt: „Das Wort Kassiwer bedeutet jede schriftliche Mitteilung der Gefangenen unter sich und Dritten außerhalb des Gefängnisses... In verschiedenartiger Weise können Briefe von außen in die Gefängnisse gelangen, und zwar durch die Gefängnisbeamten(!) selbst... Aber auch die strengsten Beamten werden häufig getäuscht... Im Brot, in einer Kartoffel, einem Kloss, unter dem Mark eines Fleischknochens, im Maule eines gebackenen Fisches, in einer Rübe, Birne usw. kann irgendein geöltes Papierröllchen oder Kügelchen eingeschoben werden... Zwischen die Sohlen der Fußbekleidung werden besonders gern Briefe und Fluchtmittel genäht...“Auf diesem Gebiet hat sich bis heute in der Welt des Gefängnisses nicht viel geändert. Eine beliebte Möglichkeit, Nachrichten auf Papier oder Papiergeld in das Gefängnis einzuschmuggeln, ergibt sich bei Besuchen von Freundinnen und Ehefrauen. Durch etwas länger dauernde Abschiedsküsse vermag man zum Beispiel klein zusammengerollte Geldscheine mit der Zunge von einem Mund in den anderen zu schieben. Geld ist vielleicht das Wichtigste, das ein Gefangener im Gefängnis benötigt. Hat man genügend Geld, so kann man so ziemlich alles am Schwarzmarkt des Gefängnisses erwerben: Zigaretten, Pornohefte, Schnaps und gutes Essen. Gutes Geld machte mein Freund, der Held meines Buches "Der Adler und die drei Punkte", als Hausarbeiter mit dem Verkauf von Pornoliteratur, die er am Grunde eines Eimers, in dem er Tuch und Besen transportierte, zu den Zellen brachte.

 

Zu den großen Problemen für den Gefangenen gehört die Frage, wie er auf beste Weise seine Zeit verbringt. Eine Fülle von Zeit fällt über ihn herein, die in bedrückt und mit der er fertig werden muss.

 

Eine Möglichkeit des Zeitvertreibs besteht im Anbringen von Tätowierungen am eigenen Körper. Daher können jene Leute viel Geld verdienen, die die Zeichenkunst beherrschen. Tusche, Tinte oder in Wasser aufgelöste rote Ziegelfarbe wird mit drei aneinander gebundenen Nadeln unter die Haut jener Gefangenen gebracht, die den Wunsch nach Tätowierungen haben. Tätowierungen (die Peckerln) haben eine lange Tradition.

 

Einfache Tätowierungen sind die berühmten drei Punkte am Winkel zwischen Daumen und Zeigefinger, die andeuten sollen, dass der Träger ein verschwiegener Mann ist, „der nichts sagt, nichts sieht und nichts hört". Bei der Polizei ist er ein sogenannter "Steher", aus dem beim Verhör so gut wie nichts herauszubekommen ist. Während meiner Polizeiuntersuchung war ich einmal Zeuge einer Vernehmung eines mutmaßlichen Diebes. Nach kurzer Zeit, in der von ihm nichts zu erfahren war, brach der Polizist das Verhör ab und meinte zu mir, der Mann wäre ein "Steher", also jemand, der über seine und anderer Schandtaten schweigt, dies könne er aus den erwähnten drei tätowierten Punkten ablesen.

 

Ein wichtiger Zeitvertreib bezieht sich auf die Herstellung vom Alkohol, dem Zellenschnaps, der Pomatschka genannt wird. Hierin gibt es wahre Spezialisten. Darüber erzählte Pepi Taschner: „Dass Alkohol für uns Häftlinge verboten war, versteht sich. Auch dieses Verbot umgingen wir geschickt, indem wir uns den Pomatschka herstellten. Zu einem solchen benötigt man Obst. Vor allem Orangen, Äpfel und Bananen eignen sich gut dazu. Das Obst wird mit Hefe oder Brot in einem Plastiksack luftdicht abgeschlossen, den wir für einige Monate unter die Matratze legten. Man schlief also auf der künftigen Maische. Gärte das Obst, so konnte man zum Destillieren schreiten. Dafür brauchte man zwei größere Dosen, die wir uns in der Küche besorgten. Die eine Dose wurde mit der anderen durch einen Gummischlauch, den wir auch irgendwo auftrieben, verbunden. In die eine Dose, die wir schließlich erhitzten, kam die Maische und in der anderen bildete sich der Schnaps".

 

Ein solcher Schnaps verhalf der trinkfreudigen Zellengemeinschaft zu einiger Abwechslung.

 

Diese Beispiele demonstrieren gut den Erfindungsreichtum von Ganoven, um mit der Belastung des Gefängnisses fertig zu werden. Jedoch sind, wie oben schon erwähnt, jene im Vorteil, die aus der Kultur der Kriminalität kommen, sie können auf alten Traditionen aufbauen und haben die entsprechenden Kontakte im Gefängnis.

 

Zu den Versuchen von Gefangenen, ihre Identität hervorzukehren und Ansehen also "Ehre" zu erringen, gehört die Strategie, zugedachte "Erniedrigungen" "tapfer“, also ehrenvoll, hinzunehmen. Es wird der beabsichtigten Entwürdigung derart begegnet, dass das Unausweichliche als honorige Mutprobe interpretiert wird. In der informellen Hierarchie des Gefängnisses genießen jene Leute höchstes Ansehen, die bei ihren Delikten mit Geld zu tun hatten. Bankeinbrecher, geschickte professionelle Betrüger und andere Ganoven besitzen demnach das meiste Prestige. Gleich nach ihnen kommen die, die als Gewalttäter mit Polizisten oder mit bekannten Männern aus der Welt der Kriminalität zu tun hatten. Am unteren Ende der sozialen Hierarchie im Gefängnis, wie eingangs angedeutet, sind die Sittlichkeitsattentäter, diejenigen, die Frauen und Kinder vergewaltigt oder gar getötet haben, angesiedelt. Von ihnen distanziert sich der "noble" Ganove.

 

Die Welt des Gefängnisses ist also voll der Grenzen und Abgrenzungen. Erst jemand, der diese Vielzahl von Grenzen kenn und gelernt hat, mit diesen umzugehen, vermag im Gefängnis einigermaßen mit Würde zu überleben.